von Wolfram Adolphi
Es gibt Bücher, die geeignet sind, das innerste Selbst zu erschüttern. Der Band Eine andere Welt. Das Weltsozialforum gehört zu diesen.
Zwar kommt er zuweilen etwas spröde daher; zwar wiederholt sich, wenn mehr als vierzig Autorinnen und Autoren aus vielen Ländern der Welt ihre Ansichten zum gleichen Gegenstand – dem Weltsozialforum eben – darlegen, das eine oder andere; zwar hat die Sprache der Akteure des Forums ihre gewöhnungsbedürftigen Eigenheiten – aber was ist das alles gegen die Visionen, die sich dem geduldigen Leser sehr bald darbieten; was gegen den Reichtum an überraschenden Sichten auf diese Welt; und was gegen die erfrischende Bereitschaft der hier das Wort Nehmenden, die Bewegung, der sie sich verschrieben haben, nicht nur kenntnisreich und einfühlsam darzustellen, sondern auch einer kritischen und selbstkritischen – und also vorwärtstreibenden – Analyse zu unterziehen!
Man braucht freilich – das sei hier noch einmal betont – Geduld. Und den Mut, die Erschütterung des innersten Selbst zuzulassen oder – mehr noch – richtig zu wollen.
Haben sie uns denn – muß man sich fragen wollen – wirklich etwas zu sagen: die Zehntausenden, die sich da im Januar 2001 zum ersten Weltsozialforum in Porto Alegre versammelt haben und auch 2002 und 2003 noch einmal in dieser brasilianischen Stadt und 2004 im indischen Mumbai? Und wenn sie uns etwas zu sagen haben – warum wissen wir so wenig darüber? Warum waren diese Treffen dem Medienhauptstrom nur selten mehr als ein paar knappe Berichte wert?
Genau da, glaube ich, muß sie beginnen, die Erschütterung: bei der Frage nach den Gründen des Nicht-Informiert-Seins. In dieser Welt der Informationen! In dieser Gesellschaft, die nicht müde wird, sich als Informationsgesellschaft zu preisen!
Man kann es sich einfach machen. Kann ihn geißeln, diesen Medienhauptstrom, und sich an seinen Usancen des Weglassens abarbeiten. Aber gewonnen ist damit noch gar nichts – außer vielleicht einer Wiederkehr der verschütteten oder verdrängten Erkenntnis, daß Information immer mit Nichtinformation einhergeht. Und man deshalb natürlich dem Informierenden stets genau auf die Finger schauen muß.
Aber der nächste Schritt erst ist der entscheidende: die Prüfung, wodurch man denn daran gehindert wird, das Wort von der Informationsgesellschaft ins Emanzipatorische zu wenden. Sich also eine eigene Prioritätenliste der Informationen aufzustellen. Ein Kinderspiel – fast – im Zeitalter von Computer und world wide web.
Jedoch: So einfach das technisch zu machen ist, so kompliziert ist es offensichtlich für Seele und Hirn. Übermächtig scheint der Strom zu sein, der uns zwingt, Teil des Hauptstroms zu sein – und darum, zum Beispiel, die Treffen der »Großen« dieser Welt auf ihren »Weltwirtschaftsforen« in Davos für bedeutender zu halten als die der Zehntausenden von allen Kontinenten in Porto Alegre oder Mumbai.
Dabei bieten die ersteren seit Jahren nichts anderes als eine unsäglich ermüdende, einfallslose Wiederholung ihrer immer gleichen Gesänge von der Alternativlosigkeit ihres Tuns, während die letzteren unablässig Neues, Anregendes und Herausforderndes produzieren. Genau anders herum also müßte – eigentlich – das Medieninteresse fokussiert sein.
Ist es aber nicht, und das hat seine Gründe, und diese Gründe auf neue Weise durchschaubar zu machen, gehört zu den wichtigen Leistungen des Buches. Aber noch wichtiger ist, daß die Autorinnen und Autoren dabei nicht stehen bleiben. Die andere Welt, die hier gezeichnet wird, nimmt den Protest gegen das Bestehende eben nicht – wie den Protestierenden so furchtbar gern unterstellt wird – als Endzweck, sondern als Baustein zu einer Veränderung, in deren Mittelpunkt tatsächlich der Mensch stehen wird.
Aber da höre ich »Halt!« rufen und »Revolutionsromantik!« und »Das hatten wir doch alles schon!« – und kann dem nur erneut entgegenhalten: Lesen!
Denn die sich da äußern, verkünden keinen Führungsanspruch, keine »ewigen Wahrheiten«, sondern sind auf der Suche, und dies mit größter und unverborgener – also nachvollziehbarer – Nachdenklichkeit. Und zwar auf vielerlei Gebieten. Da sind – zum Beispiel – Michael Löwy und Andrej Grubacic mit geistvollen Betrachtungen zur Geschichte der Arbeiterinternationale und der Kraft und Rolle des Anarchismus. Wie anregend, die Herren Proudhon, Kropotkin und Bakunin ganz unaufgeregt in neues Licht gerückt zu sehen! Oder auch Ernst Bloch. Boaventura de Sousa Santos unternimmt es, dessen Theorie des Noch-Nicht wieder aufzugreifen und mit einer Soziologie der Abwesenheiten zu verbinden, die es ihm ermöglicht, den durch die neoliberale Globalisierung an den Rand gedrängten, ja sogar ausgeschlossenen Teilen der Gesellschaft ihre Subjektrolle zurückzugeben. Einen ganz anderen Ansatz bietet Arturo Escobar mit seinen Überlegungen zur führerlosen, nicht-hierarchischen Selbstorganisation in der Natur, wie sie etwa bei Ameisenvölkern zu beobachten ist, und den daran anknüpfenden Betrachtungen zur komplexen Anpassung und zu Prozessen des Aufkommens – also zu »Von-Unten-Nach-Oben-Prozessen« – auch in der Gesellschaft. Beispiel für letzteres ist ihm die internet-gestützte Vernetzung sozialer Bewegungen – mag deren Handlungsraum lokal, regional oder auch global sein.
Das Buch ist außerdem ein unerhört reicher Fundus an ganz konkreter Organisationserfahrung. Noch nie konnte man so ausführlich darüber lesen, wie die Treffen des Weltsozialforums im einzelnen vorbereitet wurden, welche Probleme es zu bewältigen galt – und wie jeder erreichte Erfolg doch sofort wieder in neue Herausforderungen mündete. Die gelungene Hereinnahme wichtiger Dokumente ins Buch macht es möglich, die Kollektivität des Umgangs mit diesen Herausforderungen nachzuvollziehen.
»Eine andere Welt«, sagt Arundhati Roy – die nicht nur mit ihrer Kritik an USA-Präsident Bush, sondern auch mit ihrem Roman Der Gott der kleinen Dinge weltbekannt gewordene indische Schriftstellerin und Bewegungsaktivistin – in ihrer im Buch abgedruckten Rede von Porto Alegre 2003, »ist nicht nur möglich; sie ist schon auf dem Weg. An einem stillen Tag kann ich sie atmen hören.«
Auch in Deutschland? Deutsche Autorinnen und Autoren sind im Buch nicht vertreten. Das ist ein Reformstau der ganz besonderen Art. Aber vielleicht hilft diese Übersetzung ja, ihn aufzulösen?
Anita Anand, Arturo Escobar, Jai Sen und Peter Waterman (Hrsg.): Eine andere Welt. Das Weltsozialforum. Übersetzung aus dem Englischen, Texte 15 der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, 504 Seiten, 19,90 Euro.
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