von Mario Keßler
Über einhundert Bücher hat er veröffentlicht, am 17. September wäre er einhundert geworden, der vor sieben Jahren verstorbene Jürgen Kuczynski. Fünf Gesellschaftsordnungen hat er in Deutschland erfahren, davon vier zusammenbrechen sehen, elf Jahre in den USA und England gelebt – nicht immer freiwillig, sondern zwischen 1936 und 1945 im erzwungenen Exil. Der Sozial- und Wirtschaftshistoriker bleibt mit seiner gewaltigen, 38bändigen Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, den zehnbändigen Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften und der sechsbändigen Geschichte des Alltags des deutschen Volkes in Erinnerung.
Doch JK war mehr: Soziologe und Autobiograph, politischer Kommentator und Literaturkritiker. Linientreu und doch auch subversiv war Kuczynski. Er verteidigte den Staatssozialismus, doch kritisierte er tausend Dinge an ihm, statt es umgekehrt zu halten, wie es besser gewesen wäre. So JK im kritischen Rückblick nach der vorerst letzten »Wende«. Er war Universitätsprofessor und mehrfacher Ehrendoktor, Mitglied zahlreicher Akademien und Kandidat für den Nobelpreis der Wirtschaftswissenschaften.
Ein überaus erfülltes und erfolgreiches Leben, das hatte er gewiß, auch und vor allem durch seine Frau Marguerite, die ihn um ein halbes Jahr überlebte. Es war natürlich Koketterie (und wohl auch etwas Selbstverliebtheit), wenn er sich in seinem Dialog mit meinem Urenkel die Frage stellte: »Sag mal, warum ist aus Dir nichts Rechtes geworden?« Doch lag in der Frage auch der vielleicht einzige unerfüllte Wunsch des JK beschrieben: ein einflußreicher Politiker zu werden.
Wissenschaft und politische Publizistik bildeten für Kuczynski stets eine Einheit, und als Wirtschaftsredakteur der Roten Fahne (vor 1933) wie als Politleiter der deutschen KP-Organisation in England (während des Exils) war er im Vorhof der Macht. Er kannte die gesamte Spitze des deutschen Kommunismus sehr gut, und so rechnete er sich Chancen aus, in einem kommunistischen Nachkriegsdeutschland Wirtschaftsminister zu werden. Doch dies wurde er ebensowenig, wie es ihm gelang, durch die Präsidentschaft der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft eine Schaltstelle zwischen Berlin und Moskau zu kontrollieren. Bereits 1950 wurde er von diesem Posten abberufen, sehr gegen seinen Willen. Wohl mit Recht vermutete er, dem grassierenden stalinistischen Antisemitismus, der auch die DDR erreichte, müsse ein Zugeständnis gemacht werden: Ein Jude könne unmöglich an der Spitze einer Organisation bleiben, die noch nicht zur reinen Dekoration herabgesunken war – wie in späteren Jahren.
Auch Kuczynskis letzter politischer Vorstoß, diesmal im Bereich der Geschichtspolitik, endete erfolglos: 1957 stellte er in der Diskussion über die Ursachen des Ersten Weltkrieges das gängige Klischee in Frage, wonach nur die Spitze der SPD, nicht aber die Arbeiterklasse insgesamt, anfällig für die Kriegspropaganda der Herrschenden gewesen sei. Zudem hatte er für eine Öffnung der DDR-Geschichtswissenschaft gegenüber bürgerlich-humanen Auffassungen plädiert. Ihm wurde parteifeindliches Verhalten vorgeworfen. Nur knapp entging er dem Ausschluß aus der SED.
Die Parteioberen verwiesen Kuczynski auf die Tätigkeit als Wissenschaftler und Schriftsteller und glaubten, ihn somit kontrollieren zu können. Diese Rechnung ging auf: JK beschränkte sich im wesentlichen auf seine Tätigkeit als Direktor des Akademie-Instituts für Wirtschaftsgeschichte und auf das Verfassen seiner zahllosen Schriften. Doch was er zunächst als Unglück empfand, nämlich den Ausschluß von der politischen Machtteilhabe, wurde zum reinen Glücksfall: Sein Institut wurde zur ersten Adresse innovativer Forschung in der DDR, und die westdeutschen Apparatschiks (war nicht ein gewisser Kaase federführend?) mußten viel tun, um es 1991 zu zerschlagen. Viele von Kuczynskis Büchern hätten kaum das Licht der Welt erblickt, viele seiner Schüler nicht bei ihm gelernt, wäre er im politischen Geschäft verschlissen worden.
Daß die DDR jedoch ganz auf das politische Wirken kreativer Intellektueller vom Range eines Kuczynski (oder Markov) verzichtete, war eine Ursache ihres Scheiterns. Somit ging die Rechnung ihrer Herrscher nicht auf. Daß die DDR aber großen marxistischen Gelehrten die Möglichkeit wissenschaftlicher Arbeit bot, die sie im Westen nicht erhalten hätten, ist eine der Ursachen, warum sich die blanken Verdammungsurteile über den ostdeutschen Staat als Auslaufmodell erweisen werden. Somit ist JK ein, wahrlich herausragender, Stein des Anstoßes, um über Wege, Irrwege und künftige Wege der sozialistischen Linken immer wieder und immer neu nachzudenken.
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