Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 30. August 2004, Heft 18

Am Strom

von Renate Hoffmann

Über den Ufern dieses göttlichen Stromes
(liegt) ein Zauber, dem ich nichts mir
Bekanntes an die Seite zu stellen wüßte!
Mary Wollstonecraft Shelley (1797-1851)

Es sind hellblaue milde Tage. Gute Zeit, um dem Zauber auf die Schliche zu kommen. Bei Bad Hönningen zu den hohen Ufern. Wegen des Überblickes: Da zieht er seine Bahn, der Strom. Schwingt elegant um schroffes Gestein. Läßt Ortschaften neben sich nisten. Oder gewährt nur Straße und Bahngleisen Durchgang zwischen Welle und Fels. Betriebsamkeit auf dem Wasser. Bullige Lastenkähne, schlanke Ruderboote; breithüftige, selbstgefällig prunkende Ausflugsschiffe. Burgen – oder was von ihnen übrig blieb – rheinauf, rheinab. Und gegenüber die Eifelberge. Das mag in der Zusammenfassung schon ein Zipfel vom Zauber sein.
Schloß Arenfels in den Weinbergen. Aus der Ferne – imponierender Trutzbau. In der Nähe – bröckelndes Gemäuer. Sein hohes Alter (Ursprung im 13. Jahrhundert), viele An- und Umbauten, Kriegsschäden entschuldigen die Gebrechlichkeit. Die letzte, neugotische Facon erhielt das Schloß im 19. Jahrhundert durch den Kölner Dombaumeister Ernst Friedrich Zwirner. Es soll 365 Fenster, 52 Türen und 12 Türme haben; und man nennt es »Jahresschloß«. Nachzählen bleibt müßig.
Park und umgebender Wald erwecken den Eindruck ungezügelter Natur – einstimmend auf den Ort, den ich suche: die Kiesgrube von Ariendorf. Ehemalige Niederlassung unserer Voreltern. An Jahren fast so alt wie die Ureltern Adam und Eva samt ihrem Paradies. Mit dem Unterschied, daß die Außentemperatur im Garten Eden anheimelnder war als zur vorletzten Eiszeit in Ariendorf. Hier entdeckte man bei Grabungen einen Behausungsgrundriß, rund und zeltartig, der etwa 150000 Jahre zurückliegt. Am Zeltboden erhielten sich Arbeitsplätze. Als »Werkbänke« dienten die Kniescheibe eines Steppenelefanten und das Schulterblatt vom Wollnashorn. Drumherum fanden sich Steinwerkzeuge und kleine Knochenstücke als Bearbeitungsabfall. (Ob Mary Wollstonecraft Shelley diesen Platz in ihre Schwärmerei einbezogen hätte, bleibt fraglich.)
Das Betreten der Kiesgrube ist »Unbefugten« verboten. Ich halte mich für befugt und betrete sie. Am Hang gelegen und mit laufenden Förderbändern bestückt, die feinen und groben Kies zu Halden ruckeln, scheint sie verwaist zu sein. Ich finde niemanden, den ich befragen könnte. Ein Bürocontainer mit offener Tür ist unbesetzt.
Die Entdecker der eiszeitlichen Behausung wiesen nach, daß neben dem Lagerplatz ein Bachlauf gewesen sei, und die Schräge des Terrains durch Stufeneintrieb in den Hang ausgeglichen wurde. Gescheite Leute, die Ariendorfer Eiszeitler.
Auf der Kiesschütte mit dem groben Gestein suche ich mir einen handlichen, von hellen Bändern durchzogenen Kiesel aus. Ich nehme ihn mit. Von der Vorstellung begleitet, ein »spitzgesichtiger«, stämmiger Urahn mit »flacher Stirn, vorspringender Mundpartie und zurückweichendem Kinn« schnipste ihn vormaleinst in das vorüberfließende Gewässer.
Linz – die bunte und aufsässige Stadt am Rhein – folgt nicht unmittelbar auf die Ariendorfer Kiesgrube. Dazwischen windet sich für den Fußwanderer der »Rheinhöhenweg«. Nicht schlängelnd hin und her, sondern auf und ab. Angefüllt mit Aussichten über Flußtal und Berge. Und mit Schweißperlen, um zu den hochgelegenen Weitblicken zu gelangen. Durch das »Rheintor« gehe ich in die Stadt. An den Hochwassermarken des Mauerwerks gemessen, stünde mir hier das Wasser nicht nur bis zum Halse. Hinter dem Tor öffnet sich der Burgplatz. Bunte Idylle; Abbild der »Rheinromantik«. Mary, dein Enthusiasmus bekäme Flügel. Fachwerkhäuser, farbenfroh, ein wenig schief, engen den Platz zum Wohnraum im Freien. Tische und Stühle, Küchendüfte der umgebenden Gasthäuser, Zeitunglesende. Besuchertrüppchen, die wie ein geschwätziger Spatzenschwarm einfallen.
Der Platz hat seine Burg. Die Burg – ihre Erbauungsursache vorrangig im Selbstbewußtsein der Bürger. Sie neigten nämlich zu Eigenmächtigkeiten und bildeten Schutzbündnisse – zur Wahrung ihrer Rechte – mit anderen Städten. Es mißfiel der Obrigkeit. Deshalb errichtete das kurfürstliche Erzstift Köln 1365 die Zwing- und Zollburg in Linz. Eine Aufsichtsbehörde für innere Ordnung und Finanzen. Doch die Einwohner blieben eigensinnig. In den Jahren der Reformation und Gegenreformation probten sie sogar den Aufstand. Als man zwei reformierte Stadtprediger in Gewahrsam nahm, griffen die Linzer gewaltsam ein. Und bekamen großen Ärger! Weil sie sich »in verdammte, aufrührerische schismatische Sekten und Lehre begeben« hätten, verloren sie Rechte, Privilegien und Freiheiten. Diese Mißlichkeit ist inzwischen behoben. In der Burg herrscht friedfertiges Touristenangebot.
Eine »Römische Glashütte« überschwemmt die Räume mit zerbrechlichen Nutzlosigkeiten und dem ganzjährigen Weihnachtsmarkt. Die ebenfalls in den Mauern untergebrachte Sammlung »Kinoptikum« beherbergt überwiegend Musikautomaten und gilt – wie so manche ihrer Art – als »einmalig in Europa«. An der Tür zum Burgverlies hängt ein Schild: »Geschlossen«. Verheißenes Gruseln entfällt, wegen Urlaub.
Den Markt beherrscht das Rathaus. Im Jahr 1517 anstelle eines Vorgängerbaues aufgerichtet, nutzt man es noch immer zum Wohl der Stadt. Während ich drin die Stufen zur ersten Etage hinaufsteige, erklingt draußen ein Glockenspiel. Zu ungewohnter Stunde: 12 Uhr und
15 Minuten. Im Haus tickt mahnend und hart und mit einem Quietschtönchen am Ende die ehemalige Rathausuhr. Linz liebt Geläute. Wenige Stufen höher hängen zwei Glockenzüge. Überbleibsel eines sinnigen Signalsystems, welches, je nach Klang, die Bürger zu unterschiedlichen Aktionen rief. Geblieben sind die »Feuerglocke« und die »Dreckglocke«. Letztere erinnerte daran, daß es wieder dringend nötig wäre, den Unrat vor jeder Tür zu beseitigen.
In Rathausnähe plätschert ein neuer Brunnen. Von dessen höchster Ebene beobachtet das Volk, dicht gedrängt und kritisch, seine Stadtverordneten, die eine Ebene tiefer sitzen. Bei Unzufriedenheit mit der Verwaltungsphalanx darf man sogar handgreiflich werden. Die Gliedmaßen der Volksvertreter sind beweglich angebracht … Nach einer Brunnenumrundung stelle ich fest, daß man sie arg zugerichtet hat. Linz, bunte, aufsässige und schlaue Stadt am Rhein.