Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 30. August 2004, Heft 18

Theater am Rand

von Walter-Thomas Heyn

Die Landesmusikakademie Rheinsberg ehrte den Komponisten Kurt Schwaen zu seinem 95. Geburtstag einen ganzen Tag lang. Am Beginn stand der Dokumentarfilm Eine weite Reise von Jochen Kraußer aus dem Jahre 2001, es folgte ein Liedernachmittag mit Kim Schrader (Tenor) und Florian Appel (Klavier) und schließlich die Premiere der Kammeroper Der eifersüchtige Alte. Unter den über sechshundert Werken des Komponisten, die nahezu alle Genres bedienen, nimmt die Musik für die Bühne einen gewichtigen Platz ein. Neben Bühnenmusik in Zusammenarbeit mit Brecht und seinen Meisterschülern Wera und Klaus Küchenmeister sowie der Funk- und Fernsehoper Fetzers Flucht in Zusammenarbeit mit Günter Kunert entstanden noch folgende Bühnenwerke: Leonce und Lena nach Büchner (1960), Der eifersüchtige Alte nach einem Zwischenspiel von Cervantes 1978/79 und das Singspiel Der arme Kalifah (1992).
Ein junges und engagiertes Vokal-Ensemble stand auf der Bühne und bewältigte die Partitur ohne größere Mühen. Insbesondere die Inszenierung von Hendrik Müller und die präzise musikalische Leitung von Hilmar Schalenberg machten aus dem kleinen Operchen eine süße Sommer-Leckerei, die trotzdem nicht oberflächlich daherkam. Daß der Komponist Schwaen auch größere Bögen und Formteile souverän beherrscht, bewies einen Tag darauf das Orchester des Musikgymnasiums Carl-Philipp-Emanuel-Bach bei seinem jährlichen Sinfoniekonzert in der Philharmonie, wo Schwaens Neufassung der Berliner Serenaden zu einer vielbeachteten Quasi-Premiere kamen. Hier wiederum dirigierte Tilo Schmalenberg und führte die jungen Leute zu einer eindrucksvollen künstlerischen Leistung.
Die Hochschule für Musik und Theater in Rostock brachte Häuptling Abendwind von Jacques Offenbach in einer neuen deutschen Fassung von Bettina Bartz und Martin Verges auf die Sommertheater-Bretter. Auch hier war wieder quicklebendiger Nachwuchs zu erleben, körperlich und spielerisch fit und mit wohlklingenden Stimmen ausgestattet. Es muß einem nicht bange werden um Deutschland und seine Künstler. Höchstens darum, daß diese hoffnungsvollen, talentierten und wohlausgebildeten Menschen einen Job finden mögen. Denn: In der Jugend sich freiberuflich von Projekt zu Projekt durchzutingeln, ist nicht schwer und es ist ein lustvolles Leben inmitten kreativer Gleichgesinnter. Aber wenn das Alter kommt, wenn die herbe 40, die graue 50, die verzweifelte 60 auf dem Geburtstagskuchen erscheinen, was werden sie dann machen, diese Talente von heute?
Die wunderbar leichte und flüssige Inszenierung von Matthias Pohl tröstete aber schnell über solcherlei Gedanken hinweg. Kunst, das Theater speziell, hat immer überlebt und wird immer überleben. Zu groß sind die Verführungen und Reize auf beiden Seiten der Rampe. Und was würde sonst übrig bleiben in der kommenden Europa-AG, zu der gerade die Deutschland-GmbH zurechtgeprügelt wird?
Fleisch von glücklichen Ausländern scheint den Häuptlingen Abendwind und Morgenstund im Theaterstück die günstigste Möglichkeit, das Volk satt und damit in den Griff zu bekommen. Die Sache handelt in der Südsee und spielt unter Kannibalen. Die Wilden lösen alle Widersprüche ganz einfach: Wappentier des Staates ist ein großes grünes Krokodil, das die Systemfeinde einfach verspeist. Aber auch in unserer zivilisierten Welt rücken diese Naturgesetze wieder deutlich vor. Fressen und möglichst nicht gefressen werden wird zum wesentlichen Überlebensinhalt. »300 Prozent, und es gibt kein Verbrechen … selbst bei Strafe des Galgens.« Sie erinnern sich?
Giuseppe Verdis Don Carlo steht seit einigen Wochen auf dem Spielplan der Berliner Staatsoper. Über die umstrittene Inszenierung, für die Philipp Himmelmann verantwortlich zeichnete, hörte man nach der Premiere viel Kritisches. Das Anstößige an Himmelmanns Ansatz ist das Bekenntnis zu den hochpolitischen Aspekten, die in Friedrich Schillers Drama um Philipp II. und die spanische Inquisition detailreich geschildert wurden. Politisches Leben in diesen Jahrhunderten schildert uns Casanova in seinen Memoiren so: Unten in den Palästen befanden sich die Kerker und oben der Festsaal, beide waren durch Luftschächte miteinander verbunden, so daß die da oben beim Speisen die Schmerzenslaute der Gefangenen hörten und diese da unten wiederum die Musik und die Essensdüfte der Bankette wahrnehmen konnten. So hatten die da unten immer ein Gefühl für das, was sie eingebüßt hatten, und die oben hatten eine präzise Vorstellung von der Falltiefe, die sie bei eventuell Widersetzung erwartete. Himmelmanns Ansatz blendete genau das nicht aus und verstörte einen Teil der Opernbesucher, die sich dem Genuß des Belcanto hingeben wollten.
Großen Anteil am Gelingen des Regie-Konzepts hatte das Sängerensemble, das bis auf wenige Ausnahmen erstklassig besetzt war. René Pape als Philipp II. verbindet die für ihn so charakteristische große Stimme mit einer tadelloser Diktion. Norma Fantini als Elisabeth und Dalibor Jenis als Rodrigo stehen ihm ebensowenig nach wie Nadja Michael als Prinzessin Eboli. Auch Kwangchul Youn präsentierte sich einmal mehr als stimmstarker, durchsetzungsfähiger Großinquisitor mit der ihm eigenen, etwas steifen Souveränität. Der Staatsopernchor agierte bemerkenswert klangschön und die Staatskapelle Berlin unter der souveränen Leitung Fabio Luisis präsentierte die Partitur transparent und mit begeisternder Dramatik. Theater am Rand des Zeigbaren, Theater am Rand der Wahrheit, Theater am finanziellen Abgrund – und immer wieder solche große Stunden. Es gibt kein Geld mehr – da muß man sich eben etwas einfallen lassen.