von Jörn Schütrumpf
Modell eins: Wer als Politiker seiner Partei nützt, darf mit einer freundlichen Erwähnung in einer parteiinternen Jubiläumsschrift rechnen – bestenfalls, manchmal auch nicht einmal damit. Modell zwei: Wer seinem Land Nutzen bringt, darf sich schon größere Hoffnungen auf einen wohlgefälligen Blick der ihm Nachgeborenen machen. Modell drei: Als sicher gilt der Nachruhm in jedem Fall dem, der seinem Lande Gutes tut und sich dabei nicht scheut, die eigene Partei zu opfern.
Spätestens seit seiner Wiederwahl im September 2002 hatte Gerhard Schröder letzteres für sich im Auge; so hätte er sich in der Deutschen Kanzlerreihe gleich hinter Otto von Bismarck einrangiert, der es ganz ohne Parteiung geschafft hatte, weil er seine eigene Partei gewesen war – und dem Alten aus Schönhausen posthum auch noch den länger als ein Jahrhundert unerfüllt gebliebenen antisozialdemokratischen Wunschtraum erfüllt.
Nun scheint es aber etwas anders zu kommen. Man könnte es Modell vier oder auch »Modell Honecker« nennen: Partei und Land – beides heruntergewirtschaftet. Oder, positiv formuliert: Die Berliner Republik ist Realität geworden. Dafür kommt man nicht vor Gericht.
Ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein, bezog bis vor wenigen Monaten der eloquente Gerhard Schröder seine eigentliche Stärke aus der Bräsigkeit seines Vorgängers, die in dessen späten Regierungsjahren selbst für manchen auf CDU abonnierten Wähler unerträglich geworden war. Schröder erging es dabei wie ein Jahrzehnt zuvor Michail Gorbatschow – oder wie im gegenwärtigen us-amerikanischen Wahlkampf John Kerry: Egal, was getan und gesagt wird, die Anhängerinnen und Anhänger sehen und verstehen das, was sie sich wünschen, ohne Rücksicht darauf, ob es auch wirklich gemeint ist. Die Devise lautet: Es kann nur besser werden.
Daß sie in ihrer Seelennot ihr Herz an einen Zocker wegwarfen, der andere seine Einsätze bezahlen läßt, kann man Schröder schlecht vorwerfen. Der Mann ist nun einmal von bezaubernder Schlichtheit sowie bar jedes echten Verantwortungsgefühls; ein Blender, der immer nach oben wollte, ohne zu wissen, was er da soll, und der sich seit 1998 nicht anders durchwurschtelt, als er es zuvor tat. Nur glaubten es lange Zeit viele seiner Wähler nicht, weil sie es nicht glauben wollten – oder auch nicht konnten; nicht zuletzt, weil sie sich dann einen Fehler hätten eingestehen müssen.
Die Logik der Schröderschen Reformen entspricht seinem Format: Wenn die »undisziplinierten« Schwarzen in Afrika gegen das Kapital nicht rebellieren, obwohl es ihnen die Existenzgrundlagen zerstört, sondern sich höchstens gegenseitig abschlachten, müßten die disziplinierten Deutschen allemal mit weniger auskommen. Bei Hartz IV wird diese Denkungsart ganz deutlich.
Ganz neu ist sie nicht. Der heute nur noch Spezialisten geläufige Reichskanzler Heinrich Brüning dachte 1931 nicht anders; damals allerdings nach dem Motto: Kürzen, bis der Führer kommt.
Was oft vergessen gemacht wird: Es waren nicht nur die immer wieder zitierten, unter das Existenzminimum gedrückten sechs Millionen Arbeitslosen, die in Deutschland das Elend allgemein machten. Nach dem Streichen der Bezüge für viele der Erwerbslosen hatte die Kapitalseite die Gunst der Stunde erkannt und ihrer Asozialität freien Lauf gelassen. Die krisen- und deflationsverursachten Einbußen gaben die Vorstände gleich mehrfach an die Belegschaften weiter; Löhne und Gehälter wurden brutal gekürzt. Erst danach brachen der Einzelhandel und mit ihm große Teile des Kleinbürgertums zusammen; erst danach stürzte die verhaßte Republik ins Chaos.
Das Kapital war niemals national, allenfalls nationalistisch, und das auch nur, wenn es sich lohnte. Zur Zeit ist das nicht der Fall. Überall in der Welt, von Slubice bis Katmandu und Nanking, wird darauf gewartet, endlich von deutschem Kapital ausgebeutet werden zu dürfen. Einst, als bei Daimler-Benz und im Werk des Kraft-durch-Freude-Käfers (heute VW) die Mädels aus der Ukraine und aus Weißrußland zu existenzsichernden, wenngleich nicht ihre Existenz sichernden Löhnen schafften, dachte in den Vorständen übrigens niemand an eine Abwanderung nach China. Denn da lag China noch am Neckar und am Mittellandkanal.
Danach ereigneten sich aber lauter wenig erfreuliche Dinge: die Rote Armee nicht allein in Auschwitz, sondern auch bei IG Farben im angeschlossenen Monowitz; der kalte Krieg, der der Kapitalseite einen opferreichen Burgfrieden auferlegte; und die DDR. Sie alle verdarben die Preise und zwangen gegenüber den abhängig Beschäftigten zur Demut – für Wehrwirtschaftsführer von ehemals wie für Spitzenmanager von heute in gleichem Maße unerträglich; von vielen Sozialdemokraten lange Zeit allerdings als der Ausbruch einer neuen Nettigkeit mißdeutet.
Erst 1990 konnte das Rückspiel beginnen; seitdem sinken die Realeinkommen aus nichtselbständiger Arbeit – jedoch viel zu langsam. In dem Tempo würde es noch Jahrzehnte dauern, bis in Deutschland der oft mißverstandene American way of live durchgesetzt ist. Hier soll nun die Agenda 2010 helfen.
Allerdings darf auch nichts übers Knie gebrochen werden: Noch ist aus den Betrieben viel herauszuholen. Es kommt aufs richtige Tempo an. Dafür hat man schließlich eine Regierung samt Innenminister. Daß der Weg vom Revolutionär zum Reaktionär mitunter übersichtlich kurz ist, kann man nicht nur an Erich Mielke studieren; das bringt das Fach offensichtlich so mit sich.
Und sollte bei der Zerstörung des Sozialwesens in Deutschland wider Erwarten doch etwas schiefgehen, werden kurzerhand die Firmenzentralen verlegt. Was 1944, als das russengefährdete Berlin als Zentrum der deutschen Wirtschaft aufgegeben werden mußte und die Zentralen nach Frankfurt am Main, München und in ähnlich klassenmäßig abgesicherte Schutzzonen verlegt wurden, möglich war, ist sechzig Jahre nach der Landung in der Normandie erst recht kein Problem. Ob allerdings im letzten Hubschrauber für Gerhard Schröder ein Platz frei sein wird, läßt sich heute noch nicht einschätzen. Aber keine Bange: Auch Heinrich Brüning starb im Exil – unbehelligt.
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