Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 19. Juli 2004, Heft 15

Es bleibt nur das »Innerfern«

von Kai Agthe

In dem irischen Kurzfilm Numero One Joe philosophiert Joe O’Sullivan über den Tod und der damit für ihn einhergehenden Gewißheit, daß die Erinnerung der Nachwelt schneller vergehen wird als seine irdische Hülle. »Man sollte sich niemals zu ernst nehmen. Denn schon drei Tage nach deinem Tod werden sie fragen: ›Wer?‹ So sehr wird man dich vermissen.« Ein Ausruf, der W. G. Sebald gefallen haben würde, auch wenn er sein ganzes Leben dagegen anschrieb. Für den Ende 2001 bei einem Autounfall in seiner englischen Wahlheimat Norwich gestorbenen Dichter standen die Zwillinge Erinnerung und Vergessen, also Leben und Tod, stets im Zentrum seiner Prosa. In Austerlitz (2001), seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Buch (von »Roman« sprach er nie) erreichte diese Poetik ihren Höhepunkt.
Der oben zitierte Satz des sich bereits tot wähnenden Joe O’Sullivan hätte in diesem Wortlaut auch in jenen mediterranen Fragmenten stehen können, die in dem von Sven Meyer edierten Nachlaßband Campo Santo zu finden sind. Die ersten vier Prosastücke (von denen drei als eigenständige Beiträge von Sebald in literarischen Zeitschriften publiziert wurden) sind quasi die Partikel eines Projektes über Korsika, das der Autor in den neunziger Jahren zugunsten der Arbeit an Austerlitz zurückstellte – und auch nicht wieder vornahm. In der Skizze Campo Santo reflektiert W. G. Sebald – der seine Vornamen nur als Initialen schrieb und lieber »Max« gerufen werden wollte, weil Winfried Georg ihm entschieden zu teutonisch klang – über die Trauerkultur der mittelmeerischen Insel, die wegen der sich ebenso hysterisch gebärdenden wie emotional unbeteiligt wirkenden »Klageweiber« weit über ihre Grenzen hinaus bekannt ist.
Einmal über den abendländischen Umgang mit dem Tod nachgrübelnd, sieht sich der Erzmelancholiker Sebald (von dessen Humor nur seine Briefe zeugen, die Reinbert Tabbert jüngst in Literaturen auszugsweise wiedergab) zu folgendem Fazit veranlaßt: »In den Stadtschaften des ausgehenden, zwanzigsten Jahrhunderts (…), in denen jeder, von einer Stunde zur andern, ersetzbar und eigentlich bereits von Geburt an überzählig ist, kommt es darauf an, dauernd Ballast über Bord zu werfen, alles, woran man sich erinnern könnte, die Jugend, die Kindheit, die Herkunft, die Vorväter und Ahnen, restlos vergessen.« Das trifft auch Joe O’Sullivans Problem. Der so sprach, widersetzte sich jedoch dieser Tendenz: Neben seinem Schreiben auch durch alte Fotografien, die Sebald in englischen Trödelläden (»junk shops«) eher fand als suchte und zur Illustration seiner schwermutigen Fiktionen in seine Bücher montierte.
Die Essays zur Literatur, die mit rund zweihundert Druckseiten das Gros des Buches Campo Santo ausmachen, geben einen letzten Einblick in die Werkstatt des Wissenschaftlers, der Sebald viele Jahrzehnte im Hauptberuf gewesen ist. Vier Bände mit Aufsätzen zu deutschsprachigen Autoren legte er zwischen 1985 und 1999 vor. Der hier nachgereichte Appendix komplettiert das Bild der Vorlieben des kritischen Lesers Sebald: von Bruce Chatwin über Franz Kafka und Peter Handke bis zu Peter Weiss reicht die Spanne an Essays, bei denen es sich um Wiederveröffentlichungen handelt. Daß der Schriftsteller ein Faible für Nabokov und dessen literarisch immer wieder thematisierte Heimat- und Rastlosigkeit hegte, tritt nicht erst bei Lektüre von Traumtexturen – Kleine Anmerkung zu Nabokov (1996) zu Tage, sondern ist schon den melancholischen Erzählungen Die Ausgewanderten (1992) eingeschrieben. In jeder der vier Geschichten wird Nabokov entweder explizit erwähnt, oder er springt als russischer Schmetterlingsfänger in verschiedenen Lebensaltern durch die Texte.
Der Beitrag Zwischen Geschichte und Naturgeschichte – Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung wiederum zeigt, daß Sebalds Interesse für die – nach seinem Dafürhalten ausgebliebene – Reflexion der Schrecken des Zweiten Weltkrieges in der (west-)deutschen Literatur im allgemeinen und der Bombenangriffe auf deutsche Städte im speziellen bereits 1982 anzusetzen ist. Daran knüpfte er 1997 in seinen Züricher Poetikvorlesungen, die 1999 unter dem Titel Luftkrieg und Literatur als Buch erschienen, nahtlos an. Im Aufsatz über Jean Améry von 1988 spricht Sebald daher auch zu recht von dem »enorme(n) moralische(n) Defizit, das die schriftstellerische Produktion der Nachkriegsära bis etwa 1960 bestimmte«.
Und dennoch: So gewichtig die Aufsätze zur Literatur im einzelnen auch sind, jeder, der Sebalds Bücher – beginnend mit Schwindel. Gefühle (1990) – verschlungen hat, hätte gern mehr über des Autors späte Liebe zu Korsika gelesen. Aber das Schicksal wollte es, daß wir uns mit dem Vorliegenden begnügen müssen, um uns an einen bedeutenden deutschen Autor zu erinnern, für den das Schreiben ein stetes Ringen mit der Vergangenheit gewesen ist, die von der eigenen, im Allgäu beginnenden Biographie bis zum Holocaust reichte, dessen Folgen Jacques Austerlitz gleich mehrfach zu spüren bekommt. W. G. Sebald, der in diesem Jahr sein sechzigstes Lebensjahr vollendet hätte, nennt die Erinnerung, der er verpflichtet war, an einer Stelle sehr treffend das »Innerfern«. Man könnte das, was uns zu Menschen macht, kaum schöner umschreiben.

W. G. Sebald: Campo Santo. Herausgegeben von Sven Meyer, C. Hanser Verlag München 2003, 265 Seiten, 19,90 Euro.