von Herbert Wöltge
Der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Dieter Simon, hatte zu einem Pressefrühstück geladen, in aller Montagmorgenfrühe, wenn das journalistische Hirn noch wochenendschwach dahindröselt.
Was gab es dort, außer mäßig unterhaltsamer Leibeskost: nun ja, eine mäßige Geschichte, eine akademiehistorische Kriminalstory, von der Simon selbst nicht genau zu sagen wußte, ob sie diesen Namen auch verdient. Einige Tageszeitungen haben dann darüber berichtet, höflich, aber ohne Verve. Und unter Umgehung einiger Punkte, die an der Story nun doch interessant sind. Sie sollen dem geneigten Leser nicht vorenthalten werden.
Das Stück ist schnell erzählt, es spielt im Deutschland der Nachkriegszeit und ist aus der Fachliteratur längst bekannt. 1945 erteilte die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) dem kriegsüberlebenden Direktor der Preußischen Akademie der Wissenschaften (PAW), Helmuth Scheel, den Befehl, die während des Krieges vorsorglich ausgelagerten Bestände der PAW wieder nach Berlin heimzuführen. Da Scheel aber nicht sicher war, ob er sich wegen seiner Nazi-Verstrickungen auf seinen Stuhl als Direktor behaupten würde können, leitete er einen Teil des Rückkehr-Gutes in den Westen um, in der Gewißheit, daß dieser einem alten Nazi wie ihm freundlicher gegenübertreten würde als der Osten. Bücher, Handschriften, andere Forschungsmaterialien, Akten, dabei ein Dienstsiegel und Briefkopf-Papier der PAW fanden auf diese Weise ihren Platz jenseits der Elbe.
Scheel hatte die richtige Ahnung. Er wurde Ende 1946 entlassen und ging nach Mainz, wo er wenig später eine neue Akademie errichtete, die bald jenen Mitgliedern der PAW zur neuen Heimat werden sollte, die aus gleichen Gründen nicht mehr in den Osten wollten. Scheel gab sich in der Folge mal als Direktor, mal als Treuhänder, mal als Sachwalter der PAW im Exil und versorgte seine Emigranten-Kollegen mit Literatur, die den Beständen der PAW erst befehlswidrig, dann gesetzeswidrig entnommen worden waren.
Dieter Simon lag am Herzen mitzuteilen, welcher kriminalistischer Akribie es bedurfte, um herauszufinden, welche verschlungenen Wege die Bücher seit ihrer Verbringung in den Westen genommen hatten. Mit Stolz ließ er einen wiedergefundenen Band der Schriftenreihe Nouveaux Mémoires de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres aus dem
18. Jahrhundert auf dem Frühstückstisch herumgehen, einer von 125, die er der Universitätsbibliothek Mainz nach zähem Ringen (warum eigentlich?) entreißen konnte. Und mit zurückhaltendem Stolz ließ er sich mit dem nach seiner Meinung heimgekehrten Dienstsiegel der PAW in der Hand ablichten, einem gewöhnlichen roten Stempel mit Adler (ohne Hakenkreuz, deshalb als der Weimarer Republik zugehörig datierbar) und Aufdruck Preuß. Akademie d. Wissenschaften / Gott mit uns, wahrlich kein besonderes Schmuckstück, das eigentliche Schmucksiegel bleibt nach wie vor verschwunden.
Soweit ganz grob die Story, wie sie Simon darbot. Was dabei irritiert, sind nicht die Fakten, sondern ihre geistige Einbettung. Hier wären zwei auffallende Aspekte zu nennen:
Als Kriminalfall aus dem Pitaval der Nachkriegsgeschichte wollte Simon die Sache nicht sehen. Schon bei der Bezeichnung der Scheelschen Taten hatte er Schwierigkeiten, sie als kriminelle Aktivitäten einzuordnen. Natürlich weiß er als Jurist, der er mal war, um die Übereinstimmung der Handlungen von Scheel mit verschiedenen Straftatbeständen des StGB. Aber Simon strahlte Milde aus, Verständnis, Toleranz, Sensibilität: Man müsse den Zeithintergrund sehen, schließlich war Kalter Krieg, es wären »aus Ostberlin abgezogene Projekte«, »Verlagerungen« von Büchern, ganz sicher nicht völlig rechtmäßig, vielleicht auch, wenn man unbedingt will, Diebstahl, aber nicht zu eigener Bereicherung, letztlich aber doch wohl auch Amtsanmaßung, aber der Missetäter in der Fiktion befangen, er sei rechtmäßig weiterhin Direktor der PAW gewesen, also dem Grund nach aus Treu und Glauben handelnd und damit weniger verwerflich. Schließlich galt, so Simon: »Die Rettung der Bücher in den Westen wurde damals wohlwollend als Sieg über die Kommunisten betrachtet.« Also ins Moralische übersetzt: Die Kommunisten beklauen ist eine Sünde zwar, aber eine läßliche, ein gottgefälliger Diebstahl im Dienst der guten Sache des Westens, aber am besten spricht man einfach nicht darüber. Die Geschichte hat Fakten geschaffen, die Sache ist so, wie sie ist.
Man darf anmerken, daß der Transfer verschiedener wissenschaftlicher Materialien der inzwischen in Deutsche Akademie der Wissenschaften (DAW) umbenannten PAW nach Mainz zuletzt erheblichen Umfang angenommen hatte. Die Strecke Berlin-Mainz sah einen regen Verkehr mit gestohlenem Material der PAW, Mainz war ein richtiger Verschiebebahnhof für PAW-Eigentum. Von Mainz aus wurde das Material weiter verteilt, nach Hamburg, nach Münster, nach Linz. Und der Scheelsche Raubzug wurde über Jahre hinweg betrieben. Noch 1949 beklagte sich Scheel bei einem Kollegen, daß es immer schwieriger werde, Material herauszubekommen: »Die Kommunisten haben inzwischen offenbar das Aufpassen gelernt«, was die Rettung der PAW für den Westen dann doch sehr erschwerte.
Der zweite irritierende Aspekt ist zeitgenössischer Art. Der Scheel-Beute teilweise habhaft geworden, will Simon sie nun heimführen. Das Siegel sei heimgekehrt – hier beginnt das zweite Dilemma, auf das abschließend zu verweisen wäre. Mißlich ist: Als Bücher und Siegel verschwanden und unrechtlich benutzt wurden, gab es die BBAW noch nicht. Wie können sie heimkehren, wohin? Wie hat sich hier die Heimat BBAW aufgetan?
Wäre man noch vor 1989, gäbe es eine einfache Antwort: Heimat Akademie der Wissenschaften der DDR. Die PAW entstand nach 1945 unter dem Namen DAW neu, sie wurde 1972 umbenannt in AdW der DDR, diese war die fortgeführte PAW. Der Einigungsvertrag legte dann später fest, daß die AdW als Gelehrtensozietät fortgeführt werden sollte, was sie als inzwischen enteignete, von Vermögen, Forschungsmaterial und fester Bleibe getrennte Leibniz-Sozietät auch tat. Anspruch auf Bücher und Siegel wird sie wohl nicht erheben, weil sie nicht weiß, wo sie sie unterbringen soll.
Die BBAW gab es vormals nicht. Als sie 1992 gegründet wurde, empfand sie keine rechtlich gefestigten Heimatgefühle gegenüber der PAW, weil sie sonst die Mitglieder der AdW der DDR am Halse gehabt hätte, es reichte nur zu einem vorsichtigen, historisch höchst zweifelhaften »vormals PAW« in ihrem Untertitel. Die Rechtsnachfolge auf die PAW – damit auch Vermögensnachfolge – wurde im Staatsvertrag über die Gründung der BBAW aus diesen Gründen ausdrücklich und strikt abgelehnt. Das aber, so Simon, sei ein bedauerlicher Fehler gewesen, die Väter des Vertrages hätten sich hier »dummerweise« zimperlich gezeigt. Aber man müsse sich ja heute nicht daran halten, das Leben habe den Mangel längst korrigiert.
Scheel blieb glücklos. Er starb 1967, reichlich verbittert, weil sein Vorhaben gescheitert war, in einem individuellen Raubzug die PAW dem Westen kommunistenfrei zu schenken. Er konnte nicht mehr erleben, wie seine Vision nach 1990 auf staatlich sanktioniertem Wege Wirklichkeit wurde.
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