von Jörn Schütrumpf
Wenn die Spitzenkandidatin der PDS, jener Partei, deren Führung – noch – nicht westlich dominiert ist, nur Stunden nach der Wahl erklärt, daß sie ihr Geschwätz von zuvor nicht interessiere, fühlen sich im Westen vor allem jene bestätigt, die schon immer ihre Abneigung gegenüber den Ostlern nicht verhehlten – und auch auf der Linken endlich einer landsmannschaftlich rein westgeführten Partei den Weg zu ebnen wünschen.
Natürlich hat das mit den Verfallszeiten seiner Aussagen einst Konrad Hermann Joseph Adenauer ebenso gehandhabt; aber Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann kommt nicht aus Rhöndorf; außerdem behauptet sie, nicht nur Sozialistin, sondern auch noch dazu eine demokratische zu sein. Da steht ihr für Sühnemaßnahmen der Rosenkranz, mit dessen Abbeten Adenauer in schlimmen Fällen sein Seelenheil retten konnte, eigentlich nicht zur Verfügung. Katholiken haben es leichter.
Als Ende 2003 der abermalige Zuschlag für einen Platz Sylvia-Yvonne Kaufmanns auf der – ohne Zweifel bis zum Wahltag unsicheren – Kandidatenliste für das Europaparlament wegen ihres Faibles für eine Verfassung, in der die Aufrüstung zum Verfassungsauftrag erhoben wird, in
Gefahr geriet, hatte sie auf der der Europawahl gewidmeten Zusammenkunft ihrer Partei im Januar 2004 wider ihre Meinung gezeugt. Das wurde allerdings erst am Tage nach ihrer Wiederwahl deutlich, als sie – mit Berufung auf die Meinungsfreiheit – von ihrer Partei öffentlich das Bekenntnis zur zuvor völlig berechtigt abgelehnten kriegsbegünstigenden Verfassung forderte. In der politischen Kultur hat sich für solcherlei Ausflüsse von Charakterstärke der Terminus Wahlbetrug eingebürgert.
Für die ganz Unaufmerksamen: Es handelt sich bei der hier in Rede stehenden Spitzenkandidatin um dieselbe Politikerin, die vier Jahre zuvor, im katholischen Münster, jene Brandrede gehalten hatte, in der sie ihren Kollegen nonverbal – und damit um so wirkungsvoller, weil kaum bekämpfbar – unterstellte, sich die Hintertür für die Zustimmung zu Kriegseinsätzen offenhalten zu wollen, und die damit ihre Partei spaltete – oder anders ausgedrückt: in eine tiefe existentielle Krise stürzte. Wäre ich Politiker, würde mir zu soviel Flexibilität nur noch Liebermann einfallen.
Da ich aber nicht alle Laster teilen kann, schaue ich lieber auf die, denen Frau Kaufmann ein großes Glück beschert hat: auf die an der neuen Partei bastelnden Arbeiterführerinnen und Arbeiterführer, die jene erfolgreiche Entwicklung, die die westdeutsche Politik links der SPD seit 1945 genommen hat, fortzusetzen gedenken – frei nach der Devise: Scheitern macht erst dann richtig Spassss (gemeint ist Spaß), wenn der Osten nicht dabei ist.
Daß das mit der inneren Einheit wirklich nur dann etwas werden kann, wenn sich im erweiterten Deutschland die Ostler so bewegen, wie es in der unerweiterten Bundesrepublik die Flüchtlinge aus der DDR
getan hatten – nämlich vollständig unerkennbar, anspruchslos, demütig und eingepaßt –, ist mir erstmals im späten Oktober 1990 bewußt geworden: als sich die Besetzer aus Berlin-Kreuzberg, also die outlaws des Westens, gegenüber den Besetzern aus Berlin-Friedrichshain so benahmen, wie sich alle anderen westdeutschen Gruppen schon zuvor danebenbenommen hatten – als sie den Ostlern nicht nur endlich erklärten, wozu Messer und Gabel erfunden wurden, sondern auch sonst ernstesten Gesichtes allerlei lebenstaugliche Ratschläge verabreichten.
Weil im Osten allwissende Parteiführer eine siegreich sie besiegende Revolution verursacht und die Westler das tapfer ertragen hatten, galten im Osten fortan die Spielregeln des Westens. Deutsche Logik.
Vor rechts oder links kommt in Deutschland der Geburtsort; seit 1989 ist er sogar noch wichtiger als ehedem. Denn diese vermaledeite Wende im Osten hat im Westen die gesamte Seelenlage vollständig und ohne jegliche Vorwarnung aus dem Lot gebracht – obwohl oder gerade weil die meisten Westbürger ganz vergessen hatten, daß es den Osten gab; Mallorca war näher. Das änderte aber nichts am Umstand, daß sich ihr Selbstverständnis zentral auf der deutschen Spaltung und der tiefen Überzeugung gründete, auf der richtigen Seite zu stehen. Nach der NS-Zeit war es das Beste, was Deutschen passieren konnte: dank der »richtigen Besatzungsmacht« zu den Siegern des Zweiten Weltkrieges zu gehören. Ganz abgesehen davon, daß sich Deutsche ohnehin meist nur dann als ganze Menschen fühlen, wenn man sie glauben läßt, auf der richtigen Seite zu stehen. Denn zu belastbarem Selbstbewußtsein reicht es bei den wenigsten. Das ist der Preis für die Niederlage von 1848; aus einem Philister wird nun einmal kein Citoyen.
Auf die politische und juristische Gleichstellung der Ostler per Schnellanschluß war niemand vorbereitet; so mußte die Sache wie ein feiger Anschlag auf die feine Welt des Westens und jedes einzelnen seiner Bürger wirken. Die Westler können den Ostlern bis heute unmöglich die Wende verzeihen. Der Verlust dieser – qua Geburtsurkunde verliehenen und nicht durch eigene Leistung erarbeiteten – Überlegenheit wurde furchtbar gerächt. Wobei an der Verheerung des Ostens keineswegs Helmut Kohl und Birgit Breuel allein beteiligt waren; auch partizipierten nicht nur die Kapitalstarken, die natürlich noch kapitalstärker wurden, von der Westausdehnung. Anderthalb Millionen Dauerarbeitsplätze mehr sowie eine Dunkelziffer an – dank der in Deutsch-Nordost zugewonnenen Absatzmärkte – nicht wegrationalisierter Stellen hat die Vernichtung der Ostwirtschaft den Ländern und Kommunen im Westen gebracht.
Das einzige, das – trotz diverser Anläufe nach der Bundestagswahl von 2002 – vom Westen aus bisher weder zerstört noch unterworfen werden konnte, ist die Partei, von deren Spitzenkandidatin eingangs die Rede war. Offener Wahlbetrug könnte nun den Weg öffnen, um auch dieses Ärgernis zu beseitigen – und die deutsche Einheit zu vollenden.
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