Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 6. Juni 2004, Heft 12

Gubener Plinsen

von Max Hagebök

In den wenigen Kneipen, die es noch in Guben gibt, werden sie als einheimische Spezialitäten angepriesen: Gubener Plinsen. Mit Butter und Zucker sind sie wieder Heimat geworden. Eine Heimat, die mich vor dreißig Jahren verlor. Mich trieb keine große Liebe oder Sehnsucht, sondern es war der Lauf der Zeit. In den Jahren danach kam ich besuchsweise zurück, lief die bekannten Wege und erkannte die Plätze wieder, wo ich, versteckt hinter der grünen Mauer, erste Versuche in der Liebe unternommen hatte. Und manchmal war ich am Fluß. Doch die Neiße war für mich immer die Grenze. Wir haben darin gebadet, am Ufer die ersten Zigarren geraucht und eigentlich nie rübermachen wollen. Dort drüben war Polen. Für meine Großeltern war es die Heimat; aber ich sah nur die häßlichen Ruinen des Krieges, die heute noch stehen. Guben war die Kindheit, und Gubin war Ausland.
Dann kamen in den siebziger Jahren die Menschen. Im Chemiefaserwerk arbeiteten tausend Polen. Und ich, in den Ferien. Völlig unaufgeregt taten wir unsere Arbeit, und in jeder Schicht spuckten wir die Schalen der Sonnenblumenkerne auf die Erde. Als dann der Ausweis reichte, um nach Gubin zu gehen, da blieb für mich der Fluß die Grenze. Ich war nicht neugierig. Natürlich sahen die alten Gubener das anders. Und auch die Gubiner. Mißtrauisch beäugten sich Leute und gingen ihren Weg. Jeder für sich. Abgesehen von einzelnen Scharmützeln verblieb auch die Jugend in ihrem Gebiet. Die versteinerte gemeinsame Geschichte reichte nicht für zwei Völker. Als dann nach zehn Jahren Gubin wieder ausländisch wurde, gab es keinen großen Kummer. Da war ich aber schon gegangen.
Doch heute treibt es mich häufig nach Hause. Die alten Spuren sind längst verwischt, und neue Wege haben sich gefunden. Dabei hat sich vieles geändert. Guben ist eine der neuen Autostädte. Die Fußgänger haben sich aus dem Stadtbild verabschiedet. Autofahren ist Leben. Deshalb treffe ich selten alte Bekannte. Und wenn mich doch einer mal trifft, dann habe ich den Namen vergessen oder unsere Vergangenheit.
Mit der Vergangenheit geht es mir aber nicht alleine so. Am 1. Mai traf dies den kollektiven Geist. Die geprobte gemeinsame Zeit in den siebziger und achtziger Jahren fand weder auf deutscher noch auf polnischer Seite einen Vermerk. Verdrängt und vergessen sollte nun beginnen, was eigentlich schon immer war. Polen war immer europäisch. Die jahrhundertlange europäische Kulturgeschichte der Polen beschämt die Sprüche der jeweiligen politischen Klasse. Da treibt der Geist der Ökonomie das selbstbewußte Ich der Völker aus.
Doch was es den Menschen bringt, wird vornehm verschwiegen, oder es wird fröhlich gelogen. Dabei brauchen sich die alten Neueuropäer nur in Guben umsehen. Ein Viertel der Menschen hat die Heimat verlassen. Irgendwo in der Fremde sind die neuzeitlichen Nomaden angekommen. Im Klugscheißerkauderwelsch nennt sich das Mobilität. Zurückgeblieben sind die Alten. Und jeden Tag beten viele von denen, die noch Arbeit haben, daß die Alten noch lange leben mögen. Denn in Guben sind die Rentner die besten Konsumenten; Rentenbezug als der Wirtschaftszweig. Die Zukunft kann nicht berechenbarer sein.
Wo früher händeringend Arbeitskräfte gesucht wurden, sind jetzt ein Viertel derer, die arbeiten können und wollen, ohne selbige. Mit der Massenflucht aus Guben verfallen die Wohngebiete. Abrisse schaffen im Stadtbild kariöse Lücken. Eine einzige Straße ist nun Zentrum. Und am 1. Mai war es die Festmeile. Die Gubener feierten dort und die Gubiner bei sich. Vor der Ruine der Kirche.
Wenn ich heute die Zeitungen aufschlage, dann ist von dem historischen Tag für Europa nicht mehr viel geblieben. Und die Gubener gehen wie immer auf den Markt nach Polen, kaufen Spargel für ein Drittel des deutschen Preises. Die Autofahrer tanken billig, und in den Bordells auf dem anderen Ufer der Neiße sind die Frauen jetzt europäisch.