von Fritz Klein
Viele erinnern sich an Hans Blix, den Vorsitzenden der von der UNO eingesetzten Überwachungs-, Verifikations- und Inspektionskommission, die in den Irak entsandt wurde, um Massenvernichtungswaffen aufzuspüren, deren Existenz ein Grund für die USA war, dem Irak mit Krieg zu drohen. Er fand sie aber nicht, so wenig wie andere unabhängige Untersucher. In Kenntnis der Nichtexistenz des behaupteten Kriegsgrundes eröffneten die USA den Krieg, der bis heute in immer schrecklicheren Formen andauert.
Kaum jemand kennt noch den Namen Friedrich von Wiesner, Sektionsrat im Österreichisch-Ungarischen Außenministerium, an den wir heute erinnern, weil er vor neunzig Jahren, 1914, in der unmittelbaren Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges eine ähnliche Rolle spielte wie Hans Blix in der Vorgeschichte des Irak-Krieges. Terroristen eines kleinen Volkes, das sich von der benachbarten Großmacht unterdrückt fühlte, hatten am 28. Juni den Thronfolger des Habsburgerreiches, Erzherzog Franz Ferdinand, mit seiner Frau in Sarajewo getötet. Die Frage nach der Reaktion auf das Attentat war in den folgenden Wochen Gegenstand hektischer Auseinandersetzungen in der Wiener Regierung wie auch in den Führungen und der Öffentlichkeit der mit den beiden Kontrahenten, Serbien und Österreich, verbündeten oder verfeindeten Mächte. In Wien neigte sich die Waage sogleich zu einer Antwort durch Krieg, der von einer einflußreichen Kriegspartei schon seit Jahren immer drängender gefordert worden war. Ihr Repräsentant, Generalstabschef Conrad von Hötzendorf, sah in dem Attentat den Anlaß, seine alte Forderung endlich durchzusetzen. Daß die Fäden der Verschwörung nach Serbien reichten, wo terroristische Organisationen seit Jahren gegen das Habsburger-Reich agierten, verstärkt seit der Okkupation Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn im Jahre 1908, stand außer Zweifel. Krieg aber konnte eigentlich nur erklärt werden, wenn die Mitschuld der Belgrader Regierung nachgewiesen wurde. Mit dem Auftrag, einen vorzeigbaren Kriegsgrund zu finden, schickte Außenminister Berchtold den Sektionsrat Wiesner nach Belgrad. Der aber fand nicht, was er finden sollte, sondern berichtete am 13. Juli nach Wien, daß die Mitwisserschaft der serbischen Regierung am Attentat und dessen Vorbereitung und Beistellung der Waffen durch nichts erwiesen oder auch nur zu vermuten sei. Es bestünden vielmehr Anhaltspunkte, »dies als ausgeschlossen anzusehen«. Wiesner hatte recht. In der Tat paßte der damaligen serbischen Regierung, die durchaus anti-österreichisch eingestellt war, die terroristische Kampfesweise nicht ins Konzept.
Unbekümmert um die Erkenntnisse Wiesners beschloß der k.u.k. Ministerrat am 19. Juli den Text einer Note an die Belgrader Regierung, die global für die anti-österreichischen Aktivitäten in Serbien verantwortlich gemacht und ultimativ zu deren vollständiger Unterdrückung aufgefordert wurde. Krieg war zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossene Sache. Die Note, vorsätzlich so formuliert, daß sie von einer souveränen Regierung auf keinen Fall angenommen werden konnte, wurde am 23. Juli in Belgrad überreicht. Am 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg.
Es hat sich in der Betrachtung der Ursprünge des Ersten Weltkriegs eingebürgert, das Attentat von Sarajewo zwar als den Funken zu erwähnen, der das immer brisantere Pulverfaß der europäischen Mächterivalitäten entzündete und damit den Weltkrieg auslöste. So intensiv aber galt die Aufmerksamkeit dem Pulverfaß und seinen mehr oder weniger gefährlichen Ingredienzien, daß dagegen der Funke als ein fast zufälliges Ereignis angesehen wurde. Ein äußerer Anlaß, und nicht mehr, der ebenso gut ein anderer hätte sein können, mit der gleichen Wirkung, der Auslösung des herangereiften großen Krieges. Bemerkt man aber die in dem oben angeführten Beispiel angedeutete Parallelität zwischen den kriegsauslösenden Konstellationen 1914 und 2003, so zeigt sich die Notwendigkeit, die Sicht zu erweitern. Die dramatischen Vorgänge unserer Tage schärfen den Blick für vergleichbare Vorgänge vor neunzig Jahren. Identitäten in der Geschichte gibt es nicht. Abwegig aber scheint es nicht, Männer wie Rumsfeld und Conrad auf einer Ebene zu sehen, kriegsentschlossen gegen eine Bewegung, die sich als Befreiungsbewegung gegen Großmachtansprüche versteht, unfähig, andere Mittel gegen wirkliche oder vermeintliche Bedrohung zu finden als äußerste Gewalt.
Und Vergleichbares gibt es auch auf der anderen Seite. Man wird Zielsetzung und Praxis der antihabsburgischen Geheimorganisationen Serbiens nicht gleichsetzen mit der brutalen, grenzenlosen Mordlust der weltweit agierenden Al Qaida. Etwas von deren fanatischer, lebensfeindlicher Vernichtungswut klingt aber doch an in den Statuten der 1911 unter dem martialischen Titel Vereinigung oder Tod gegründeten Geheimorganisation, besser bekannt als Schwarze Hand, die die nur durch Terror zu erreichende Vereinigung aller Serben zu ihrem Ziel erklärte und in dem düsteren Aufnahmeritual neuer Mitglieder diese schwören ließ, »bis zu ihrem Tode der Vereinigung treu und stets bereit zu sein, jegliches Opfer für sie zu bringen«. Daß das keine Phrase war, zeigten Princip und seine Mitstreiter, die ihre Waffen von der Schwarzen Hand erhielten, nach Sarajewo fuhren, um zu morden, potentielle Selbstmordattentäter, was sie nur dadurch nicht wurden, weil das Gift in den von der Schwarzen Hand für den Fall ihrer Verhaftung gelieferten Zyankalikapseln nicht wirkte, als sie sie zerbissen. Die Bestände waren überlagert.
Man braucht nichts zurückzunehmen von der in jahrzehntelanger Forschung erhärteten Verantwortung der anderen Mächte für die Entfesselung des großen Krieges, an ihrer Spitze die Verantwortung der deutschen Reichsleitung, die ihren Wiener Bundesgenossen von Anbeginn dazu drängte, sich zum Krieg zu entschließen. Aufgewühlt durch schlimme Erfahrungen unserer Tage sollte man aber dem ursprünglichen Konflikt, mit dem alles begann, wieder größere Aufmerksamkeit zuwenden. Nachzudenken ist über Nutzen oder Schaden dieser oder jener Kampfesweise gegen übermächtige Unterdrücker. Kritische Analyse des Verhaltens wirklich oder vermeintlich bedrohter Vormächte ist geboten. Es sind sehr alte Fragen aus den Beziehungen zwischen Völkern und Staaten, die sich aber immer aufs Neue stellen. An den neunzigsten Jahrestag des Beginns der vielbeschworenen »Urkatastrophe« des vergangenen Jahrhunderts, dem jetzt viele neue Bücher, Konferenzen und Ausstellungen gewidmet sind, ist nicht abgeklärt zu erinnern als an ein Ereignis abgeschlossener Vergangenheit. Es ist die beklemmende Nähe von 1914 und 2003, die uns bewegen sollte.
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