von Frank Ufen
Was muß man wissen, wenn man den Anspruch erheben will, gebildet zu sein? Dietrich Schwanitz hat hierauf vor einigen Jahren eine Antwort gegeben, die viel für sich zu haben scheint: Man muß in erster Linie wissen, wie die christlich-abendländische Zivilisation zu dem geworden ist, was sie heute ist. Und deshalb sollte man mit den Grundzügen ihrer Geschichte ebenso vertraut sein wie mit den großen Entwürfen ihrer Philosophie und Wissenschaft und mit der Formensprache und den Schlüsselwerken ihrer bildenden Kunst, Musik und Literatur.
Viele halten ein solches traditionelles Bildungsverständnis nach wie vor für gültig. Nicht so Werner Fuld. In seinen Augen verlangt das Zeitalter des digitalen Kapitalismus ganz andere Formen des Wissens und der Wissensaneignung. Sich in die Vergangenheit zu versenken, sei nutzlos, denn lernen könne man nur aus der Zukunft. Sich mit den Klassikern allzu lange abzugeben, sei Zeitverschwendung, denn über die Alltagswelt der Moderne hätten sie nichts Erhellendes mitzuteilen. Doch das habe sich immer noch nicht bis nach Deutschland herumgesprochen, und deswegen würde es keinen Ausweg aus seiner Schulmisere finden. In Deutschlands Schulen, sagt Fuld, wird nicht zu wenig, sondern das Falsche gelernt – und man kommt dümmer aus ihnen heraus, als man hineingekommen ist.
Welchen Sinn hat es, sich heute noch intensiv mit den kanonisierten Texten von Platon, Dante, Descartes, Goethe oder Freud zu beschäftigen? Überhaupt keinen, behauptet Fuld. Denn Platon habe eine totalitäre Gesellschaftsutopie ausgeheckt und ansonsten nur müßige metaphysische Spekulationen zustandegebracht. Dantes Göttliche Komödie sei bestenfalls etwas für Architekten, die nach Bauanleitungen für mustergültige KZs suchten. Descartes warte mit jeder Menge abstruser Ideen und dem Geist-Körper-Dualismus auf, der verheerende Schäden angerichtet habe. Der Faust I sei im Kern nichts anderes als christliches Mysterientheater der antiquiert-reaktionären Sorte. Und den gesamten Freud könne man getrost vergessen, denn inzwischen gebe es keine psychoanalytische Grundannahme mehr, die nicht als Humbug entlarvt worden sei. Aus diesen Befunden leitet Fuld die Forderung ab, alle Klassiker, die ausgedient haben, über Bord zu werfen und in gnadenlos zusammengestrichenen Ausgaben herauszubringen, was dann noch übrig bleibt.
Starker Tobak. Doch Fuld geht noch weiter. Gestützt auf das Argument, daß die Geschichte nicht als Sinnstifterin zu gebrauchen sei und daß aus ihr keine Lehren für die Zukunft gezogen werden könnten, weil sie sich nicht wiederhole, fordert er, das Fach Geschichte abzuschaffen. Allein die Zeit nach 1945 sollte noch behandelt werden, und als Ausgleich könnten sich dann die anderen Fächer stärker um die geschichtliche Dimension ihrer Lehrstoffe kümmern. Fuld plädiert desweitern dafür, Altgriechisch ersatzlos vom Lehrplan zu entfernen, aber am Lateinischen unbedingt festzuhalten. Schließlich sei es die Sprache großer Anwälte, Politiker, Militärs und Rhetoriker gewesen, also von Leuten, die sich darauf verstanden hätten, ihre Machtinteressen durchzusetzen. Auf die Naturwissenschaften ist Fuld sowieso schlecht zu sprechen, doch am meisten verabscheut er das Tun und Treiben der Mathematiker. Mathematiker, sagt er, sind Betriebsunfälle der Natur. Ihnen fehlt gerade das am meisten, was man heute am dringendsten braucht – und was das deutsche Schulsystem am wenigsten vermittelt: emotionale Intelligenz und Stilbewußtsein.
Das Buch ist eine merkwürdige Mischung aus charmanten Provokationen, tiefschürfenden Analysen, maßlosen Übertreibungen, aufschlußreichen historischen Exkursen und fragwürdigen ideologischen Aussagen. Doch das Beste an ihm sind paradoxerweise Interpretationen von Klassikern – darunter Oscar Wilde, James Joyce, Jean Paul und Robert Musil. Ein aufregendes, dem Neoliberalismus verpflichtetes Pamphlet. Aber wie lernt man aus der Zukunft?
Werner Fuld: Die Bildungslüge. Warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen, Argon Verlag Berlin 2004, 302 Seiten, 19,90 Euro.
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