Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 24. Mai 2004, Heft 11

Marktwirtschaft

von Wladislaw Hedeler, z.Z. Moskau

In den Kassen rechts und links vom Haupteingang zum Ausstellungsgelände der WDNCh, der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft in Moskau, werden längst keine Eintrittskarten mehr verkauft. Über einigen der Schalterfenster kleben verblichene Plakate, nur an zwei der Luken werden Flugtickets gehandelt. Die Fenster der ehemaligen Wechselstuben sind verrammelt.
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR war auf dem Messe-Gelände, das am 16. Juni 1959 seine Pforten eröffnet hatte, ein wilder Markt entstanden. Zwischen den mit sowjetischer Symbolik verzierten Prunkbauten siedelten sich mit der Zeit Budenbesitzer an. Wie auf den anderen Moskauer Märkten wurde Eintritt kassiert. Unter den, Getreideähren nachempfundenen, Lampen wurden Fahrräder und Mobiltelefone, Sportartikel und Schuhe angeboten. Nicht nur die Pavillons (der größte hat eine Ausstellungsfläche von 3300 Quadratmetern), auch das Gelände mit seinen zahllosen Bierbuden, Apothekenkiosken und Optikgeschäften ist heute heiß umkämpft. Daß die bisherige Betreiberfirma über Nacht samt der eingenommenen Miete verschwand, war dem neuen Pächter egal. Als die geprellten Budenbesitzer nicht ein zweites Mal zahlen wollten, rückte die Miliz an und sperrte die Lädchen rechts und links der Hauptallee ab. Seitdem laufen vor dem Haupteingang Rentner mit Pappschildern hin und her und verteilen Handzettel mit Ausweichadressen der aufgebrachten Händler.
Ungeachtet dieses marktwirtschaftlichen Aufs und Abs ist jedoch das 207 Hektar große Gelände mit seinen 78 Pavillons, Gewächshäusern, Grünanlagen, Wasserläufen und Springbrunnen ein beliebter Ausflugsort für jährlich fast acht Millionen Besucher geblieben. Vor dem Brunnen mit den vergoldeten Frauenfiguren, die die Sowjetrepubliken verkörpern, wartet stets ein Fotograf auf Kundschaft.
In der 1967 eröffneten Ausstellungshalle Elektrifizierung der UdSSR gibt es heute Möbel aus Italien, Spanien und Rumänien, nach Waren aus »vaterländischer Produktion« muß man lange suchen. Im Pavillon 12 wird statt Aeroflot Elektroflott angeboten. Im Kosmos-Pavillon, vor dem eine Trägerrakete, eine TU 154 und eine Jak 42 vor sich hinrosten, gibt es alles, was man für den Garten braucht. Gleich daneben bietet eine Komplexlösung für Frischmilcherfassung und -transport. Um den Tankwagen herum stehen Setzlinge und Blumenverkäufer. So muß es 1959 angefangen haben, als die Messe noch eine reine Landwirtschaftsausstellung war.
Im Chemie-Flügel des Gebäudekomplexes der Akademie der Wissenschaften hat ein Freizeitclub für Kinder sein Domizil. Das Haus der Völker Rußlands, vor dem Lenin wacht, ist ein gewaltiger Friseursalon. Lederwaren, Honig und Schnickschnack aller Art kann man in den Pavillons der Unionsrepubliken Karelien, Georgien und Armenien ansehen. Bis auf den Honig ist wenig zu empfehlen. Im Pavillon der befreundeten Ukraine gibt es ebenfalls Honig, noch preiswerter und noch wohlschmeckender als anderswo auf dem Gelände. Ein Foto vom dicksten Schwein, das hier einst zu besichtigen war, ist jedoch nirgendwo aufzutreiben.
Über Lautsprecher wird das Programm des Ausstellungszentrums für das Jahr 2004 verlesen. Zu Sowjetzeiten fanden hier jährlich 75 thematische Ausstellungen und bis zu 900 Tagungen statt. Höhepunkte in diesem Jahr sind eine Makkaroni-Messe und die Katzenausstellung. Wer noch weitere Fragen habe, könne sich gerne an das »Departement für Ausstellungsfragen« wenden. Anschließend knackt es im Lautsprecher, und über den Platz tönt We are the champions, während Frauen in grünen Overalls vor dem EDV-Pavillon aus einem Bus steigen und anfangen, den Müll, der sich im Laufe des Vormittags angesammelt hat, zusammenzufegen.