Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 10. Mai 2004, Heft 10

Nur der Fernseher fehlt

von Gerhard Wagner

Das Stadtmuseum Berlin lädt zu einer Dauerausstellung. Diese schlägt mit dem Bürgerlichen Wohnen im Biedermeier Motive der deutschen Kultur an, die zwischen 1815 und 1848 entstanden. So zeigt sie, daß mit schlichten, praktischen und formschönen Möbeln und Gebrauchsgegenständen eine quasi virtuelle Welt errichtet wird. Die Wohnung gerät zum überschaubaren und säuberlichen Raum der großen, verdinglichten Sehnsucht nach der herrschaftsfreien Heimat, der Verdrängung von Angst, Vergänglichkeit, Siechtum und Katastrophen. Trotzig wird sie ausgestattet mit geschwungener Mahagonikommode und klassizistisch ornamentiertem Kirschholztisch, mit Ohrensessel und Schreibsekretär, mit Vorhängen, die kleine Kugeln und Bänder aus Stoff tragen. Und während draußen die Industrie immer größere, lautere und wirksamere Werkzeuge hervorbringt, werden die heimischen Objekte immer kleiner, niedlicher und ausgefallener: die gußeisernen Kerzen- und Bilderhalter, die vergoldeten und genrebebilderten Vasen und »Sammeltassen« hinter Glas, die Haarspangen aus Horn, die farbigen Parfümfläschchen.
Auch extrem selektive und idealtypische Illustrationen zum neuen bürgerlichen Lebensroman gibt es schon reichlich: neben der herbarienartige Naturdarstellung an der Wand und dem bunt-antikisierenden Landschaftsbildlein in Eduard Knoblauchs Poesiealbum finden sich Johann Heinrich Danneckers dramatische Ariadne auf dem Panther aus seiner Marmorplastik-Gruppe (1806-1810), Jean Barthélemy Pascals beschaulicher Blick auf die Pankower Dorfkirche (1835) in Öl, Johann Wilhelm Brükes Ansicht der prachtvollen, von promenierenden Bürgern gesäumten Parade vor dem Königlichen Palais (um 1839). Auf Porträt-Lithographien aus der Berliner Werkstatt Sprick, um 1830 entstanden, geben sich die Knoblauchs so, wie sie zu sein wünschen: erfolggewohnt, selbstsicher, edelmütig. »Seelenadel zieht Ehre dem Gewinne vor«, heißt es beschwörend im Schönschreib-Schulheft der Henriette Marie Knoblauch.
Was ist am »Biedermeier« heute interessant? Das mit diesem – erst um 1900 aufkommenden, wie ein Pseudonym wirkenden – Stilbegriff mehr Um- als Beschriebene ist eine widerspruchsgeladene Scheinkultur. Sie verweist auf Langzeitwirkungen der sozialen und mentalen Verhältnisse zwischen den Befreiungskriegen von 1813/14 und der Revolution von 1848, zwischen Restauration und Vormärz: Eben noch durch die Kämpfe gegen Napoleon zu einigem politischen Selbstbewußtsein gelangt, wird das deutsche Bürgertum unter dem massiven Druck eines restaurativen, häufig mit dem Namen des Fürsten von Metternich charakterisierten Systems bald in seine kleinstaaterischen Schranken gewiesen. Resigniert zieht es sich in die Privatsphäre zurück, in Konformismus, Selbstsucht und Kurzsichtigkeit, badet in den letzten Rinnsalen einer verflachten Aufklärung, läßt einen kunstgewerblichen Rosenkranz nach dem anderen durch seine Finger laufen. »Lebensart« und eine sich bescheidende »Innerlichkeit« werden ihm wichtig.
Doch andererseits vollziehen sich in diesen Jahrzehnten machtvolle technische und kulturelle Entwicklungen: Große Flüsse wie der Rhein werden reguliert, die Dampfschiffahrt und die mechanischen Webstühle setzen sich durch, das Druckgewerbe wird revolutioniert, Tiefschachtanlagen effektivieren den Kohleabbau, die Städte erhalten Gasbeleuchtung; man entdeckt das Paraffin und das Chloroform, erfindet die Telegrafie, die Eisenbahn und das Zündnadelgewehr. Es ist die Zeit von Beethoven,
E. T. A. Hoffmann, den Brüdern Grimm und Clausewitz. 1834, als sich die Zeit von »Biedermanns Abendgemütlichkeit« ihrem Ende zuneigt, diese in »Bummelmaiers Klage« (Josef Victor von Scheffel) mündet, wird Georg Büchners Der hessische Landbote publiziert; fünfzehn Jahre später liegt das Kommunistische Manifest vor. Und neben dem »biederen Herrn Meier« erscheinen selbstbewußt aufsteigende Unternehmerpersönlichkeiten, die zum Träger der neuen ökonomischen Entwicklungen werden; krasse soziale Widersprüche schlagen sich in extremen Formen der Ausbeutung und des Elends, in Maschinenstürmerei und in den – das aufklärerische Naturrechtsprinzip aufgreifenden – Gleichheitsvorstellungen der Handwerker des Bundes der Gerechten nieder.
Die biedermeierliche »Innerlichkeit« scheint zunächst in totalem Gegensatz zur ohne Atempause Geschichte machenden äußeren Welt, zu ihren die Posen, die soziale und politische Wahrnehmung prägenden Verläufen zu stehen. Aber sie hat ihre Funktion. Denn in der »guten Stube« wird harmoniesüchtig gerade die menschliche Ordnung geschaffen, die draußen nicht gelingen will; die in all ihren Folgen nicht begriffene kapitalistische Industrialisierung wird vom ratlosen und sich bedroht fühlenden, seiner Weltbemächtigung oft noch unbewußten Bürger aus ihr und den entstehenden Ersatzöffentlichkeiten – wie den zahlreichen Vereinen – verbannt. Diese Kultur der Innerlichkeit ist also nur eine Form sozusagen spiegelverkehrt transformierter und nach innen verlagerter Äußerlichkeit. Sie ist von der Alltagsmacht der Wirtschaft, der Sozialhierarchie und der politischen Herrschaftsverhältnisse mehr geprägt, als sie zunächst preiszugeben bereit ist. In ihren Wohnarrangements fehlen nur noch Fernseher und Multimedia-Computer.

Bürgerliches Wohnen im Biedermeier. Dauerausstellung, Stadtmuseum Berlin, Knoblauchhaus, Poststraße 23, 10178 Berlin-Mitte, dienstags bis sonntags, 10 bis 18 Uhr