Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 10. Mai 2004, Heft 10

»Ich bin ein Mensch – holt mich hier raus!«

von André Hagel

Die Warnung kam, als das Kind längst in den Brunnen gefallen war: »Erhalten Sie sich einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk!«, appellierte vor vier Jahren Robert Chesney, Medienwissenschaftler an der Universität von Illinois/USA, an die Europäer. »Kommerzielles Fernsehen ist eine Giftpille für die Demokratie!«
Die Meldung über die Warnung Chesneys vor einem um sich greifenden privaten Kommerz-TV und seinen Auswüchsen ist in Deutschland seinerzeit untergegangen. Lediglich, wer am 6. Juni 2000 den Kölner Stadt-Anzeiger zur Hand nahm, konnte mit etwas Glück abseits der großen Schlagzeilen des Tages auf die Ausführungen des besorgten Wissenschaftlers stoßen. In Deutschland hatte man zu diesem Zeitpunkt bereits den Anspruch einer umfassenden qualitativen Programmgestaltung zu Gunsten einer vermeintlich größeren Freiheit in der Programmauswahl auf dem Quotenmarkt verhökert. Einer Freiheit, die am Ende dann doch nur darin bestand, zwischen unterschiedlichen televisionären Billigkonfektionen zu wählen – und verschiedenen Anordnungen von Werbeblockbustern mit Programmeinsprengseln.
Das seinerzeit als absolutes Freiheitsplus propagierte private Fernsehen als Giftpille der Demokratie – in einer wirklich gerechten Welt hätte Robert Chesney alleine für diese Einsicht bereits den Nobelpreis verliehen bekommen. Denn wenn man Demokratie für mehr hält als eine lediglich technische Konstruktion zur Klärung von Mehrheitsverhältnissen, die ihrerseits die Grundlage politischer Entscheidungen bilden, ist das Privatfernsehen, wie wir es derzeit erleben und erleiden müssen, nicht bloß eine Todespille, die schleichend ihr Gift freisetzt, sondern eher noch eine in einen medialen Revolver eingelegte Kugel, die darauf aus ist, der Demokratie das Gehirn wegzupusten.
Demokratie, das ist nicht zuletzt der Anspruch auf Menschenwürde. Der Anspruch darauf, als Mensch ein in Verantwortung selbstbestimmtes Subjekt zu sein, kein fremdbestimmtes Objekt, keine Marionette an Fäden, die andere, Mächtigere ziehen, kein bloßer Spielball fremder Interessen. Diese Ansprüche, die einzulösen die Demokratie angetreten ist, verletzt unser privates Konsum- und Kommerzfernsehen jeden Tag aufs Neue. Um der allheiligen Quote willen – und um der damit verbundenen Werbeeinnahmen, die um so reichlicher fließen, als wir Menschenaffen in Horden das Treiben auf der Mattscheibe begaffen – setzt das private Fernsehen dem Anspruch auf menschliche Würde die Erniedrigung entgegen, der verantworteten Selbstbestimmung die mediale Fremdbestimmung und Ausbeutung, dem Subjekt Mensch den Menschen als Objekt der Tele-Visionen der Sender.
Auf Knopfdruck springen den Zuschauer künstlich angefütterte Glücksvorstellungen an, die nicht die eigenen sind und doch auf Wunsch anderer die eigenen werden sollen, wird einem die eigene Existenz als langweiligste aller Möglichkeiten präsentiert und der Ausweg gleich mit geliefert: Ein Star werden! Sich casten lassen! Sofort! Jetzt, gleich und hier!
Fear Factor, jene vermeintliche Stunt-Show für Normalverbraucher auf RTL, stellt die für das Kommerzfernsehen so typische wie bereits klassische Verbindung von Risiko, Ekel und monetärer Entlohnung her. 25000 Euro winken Folge für Folge demjenigen, der sich auf ein Aug’-in-Aug’ mit offenbar der Dschungelshow Ich bin ein Star – holt mich hier raus! entsprungenem Gewürm einläßt, sich von einem in voller Fahrt übers Wasser sausenden Speedboot in einen Helikopter hoch hangelt oder gegen die Wand eines Hochhauses klatschen läßt.
Die Macher solcher und ähnlicher Formate wissen längst, daß die von ihnen produzierte Illusion inzwischen allzu schnell in eine Illusion der Zuschauer über ihre eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten umschlägt – das Jackass-Syndrom, benannt nach der gleichnamigen MTV-Selbstverstümmelungs-Show, die so manchen ihrer zumeist jugendlichen Nacheiferer zu einem Belastungsfall für den Haushalt deutscher Krankenkassen werden ließ.
Die von Endemol produzierte Abendshow Fear Factor, deren Schrekkensfaktor in geistiger Hinsicht weitaus größer ist als ihr »sportlicher«, suggeriert die Selbstverwirklichung ihrer Kandidaten in schwindelnden Höhen, rasenden Geschwindigkeiten und magenreizenden Begegnungen von Homo sapiens und Wenigzellern – und praktiziert doch ein weiteres Mal bloß die Ausbeutung der Angetretenen als Quotenhammel, abgespeist mit einem als Siegerprämie verklärten Mohrenlohn von 25000 Euro. Eine Summe, die angesichts der wirtschaftlichen Situation vieler privater Haushalte auch so manchen nicht im Big-Brother-Container geistig mürbe gekochten Mitmenschen überlegen läßt, sich für die Aussicht dieses Preisgeldes einmal unter seine eigene Würde zu begeben, statt sich Abend für Abend in stummen Hilfeschreien zu ergehen: »Ich bin ein Mensch – holt mich hier raus!«
Den quotenträchtigen Zynismus der Kommerzsender und seiner Formate zu beklagen, ist das eine. Das andere ist, die Frage zu stellen: Was tun? Fear Factor und andere Auswürfe des privaten Rundfunksystems existieren nicht zuletzt deshalb, weil immer wieder über sie berichtet wird, und zwar nicht nur auf den entsprechenden Sendekanälen selbst oder in Bild. Auch schlechte Werbung ist Werbung, und so macht es längst keinen Unterschied mehr, ob Fear Factor & Co. kritiklos gepriesen oder – wie zuletzt durch den hierin immer wieder unbestechlichen André Mielke zum Fear-Factor-Sendeauftakt in der Welt geschehen – hemmungslos demaskiert werden. Es ist die öffentliche Aufmerksamkeit allein, die für die Macher zählt. Über wen geredet wird, der ist im Gespräch. Wer im Gespräch ist, dem ist auch die Quote hold. Mehr kann man nicht wollen. Vorkommen ist alles.