von Klaus Hammer
Das Lehmbruck-Museum in Duisburg besitzt den bemalten Originalgips von Giacomettis lebensgroßer „Frau auf dem Wagen“, um 1945 fertig gestellt und ein Hauptwerk des Künstlers darstellend. Die seltsam entrückte Figur steht mit geschlossenen Beinen und eng am Körper anliegenden Armen in kultischer Strenge auf einem mit Rädern versehenen Sockelblock. Sie gleicht einer jugendlichen ägyptischen Gottheit. Das Holzwägelchen, das inzwischen durch ein neues ersetzt wurde, lässt den Eindruck von Bewegung entstehen, ebenso wie die leicht schräge Achse der Figur. Man könnte sich gut vorstellen, dass die Skulptur auf dem Wagen von Gläubigen in einer Prozession mitgezogen würde. Doch die Unbeweglichkeit der Radachsen gestattet lediglich ein Vor- und Zurückfahren der Skulptur, was für Giacometti gleichbedeutend ist für die Ereignishaftigkeit und das transitorische Erscheinen und Wieder-Verschwinden einer Figur. Erstmals in der Geschichte der Bildhauerkunst thematisierte der 1901 in einem Bergbauerndorf geborene Schweizer Künstler hier die Darstellung der Distanz.
Gleich zwei Giacometti-Ausstellungen sind in diesen Wochen in Hamburg zu sehen: Das Bucerius Kunst Forum zeigt bis 20. Mai das Portraitschaffen des Künstlers – wie schöpft dessen Werk aus Begegnungen mit Zeitgenossen, die seine Obsession für das menschliche Antlitz herausforderten –, während zeitgleich in der Hamburger Kunsthalle Giacomettis Interesse an Figurenensemble und Platzgestaltung thematisiert wird. Zusammen bilden die Ausstellungen eine hervorragend besetzte Retrospektive, die das Werk eines der bedeutendsten Bildhauer der Moderne aus sich ergänzenden Perspektiven nahe bringt. Im Dialog mit den Skulpturen, Gemälden, Zeichnungen und historischen Fotografien kann der Besucher eine sinnlich konkrete Entdeckungsreise antreten.
Die Ausstellung „Alberto Giacometti. Begegnungen“ im Bucerius Kunst Forum reflektiert erstmals umfassend die Portraitkunst des Künstlers, die sein gesamtes Werk durchzieht und seine Persönlichkeit und künstlerische Weltauffassung wie kein anderer Bereich seines Schaffens offenbart. Die über lange Jahre entstandenen Bildnisse seiner Familie und die Portraits von Künstlern und Philosophen seines Pariser Freundeskreises um Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir führen den kreativen Schaffensprozess des Künstlers vor Augen. Das Gewebe menschlicher Verbindungen hat ihn zu immer wieder neuer Auseinandersetzung mit Antlitz und Gestalt des Gegenübers angeregt. Zur Erfassung der körperlichen Gesamterscheinung seines Modells hatte Giacometti dieses immer weiter von sich weggerückt, so dass die Skulptur immer kleiner und kleiner wurde, bis zu ihrem völligen Verschwinden. Die Bildnisbüsten und Figuren, die zwischen 1935 und 1946 entstanden, sollten das Erinnerungsbild der Raumferne wiedergeben. Während die Figuren so immer kleiner gerieten, wurden die Quadersockel immer umfangreicher. Nicht der Begriff der natürlichen Lebensgröße war für Giacometti entscheidend, sondern die relative eines Menschen im Verhältnis zum gesamten Blickfeld des Augenpaares. Neben zahlreichen Arbeiten von extremer Kleinheit griff er mit der „Frau auf dem Wagen“ (sie ist erst unlängst als Giacomettis englische Künstlermuse Isabel Nicholas identifiziert worden) dann wieder das Thema der sich vorwärts bewegenden Frauengestalt auf, die aber nicht schreitet, sondern nur vor- und zurückgefahren werden kann und die sich zudem in strikter Frontalität präsentiert. Mit Hilfe feinliniger Zeichnungen fand er schließlich zu einer entmaterialisierten und vertikalisierten Wiedergabe des vor ihm stehenden Modells. Seine Skulpturen wurden jetzt lang und dünn; ihre Oberfläche löste sich dabei in knorpelhafte Einzelteile auf, die sich im Auge des Betrachters erst mit zunehmendem Abstand zu einer erkennbaren Gestalt verdichten.
Die Formulierung eines Zeitempfindens ist kaum je treffender zum Ausdruck gekommen als in seinen Figuren. In den letzten Lebensjahren sagte Giacometti viele Ausstellungen ab, weil er wie besessen an Büsten und Bildnissen arbeitete, die das Einmalig-Individuelle des Hier und Jetzt mit der zeitlosen Allgemeinbedeutung, wie sie etwa antike Bildwerke haben, verbinden sollten.
Die Ausstellung „Giacometti. Die Spielfelder“ in der Hamburger Kunsthalle widmet sich dagegen vornehmlich dem surrealistischen Frühwerk, zieht aber Linien bis zu dem letzten großen Projekt Giacomettis für die Chase Manhattan Plaza in New York. In den frühen 1930er Jahren – als er zum Kreis der Pariser Surrealisten um Breton zählte – befasste sich der Künstler schon mit der Frage, wie Figuren auf einer horizontalen Fläche anzuordnen sind. Dieses Hin- und Herschieben erinnert an Figuren auf einem Spielbrett. Deshalb auch der Titel der Ausstellung: „Spielfelder“. In einer neuartigen horizontalen Ausrichtung hat der Künstler später die Idee der „Skulptur als Platz“ entwickelt. Werk und Sockel, Präsentiertes und Präsentationsform fallen ineinander. Entscheidend wird die Positionierung der einzelnen, geheimnisvoll auf Eros, Tod und Erinnerung anspielenden Elemente – wie auf einer Spielfläche. Die „Spielbrettskulpturen“ verweisen als Modelle auf riesige Platzgestaltungen, in die Giacometti auch den Besucher einbezog. Er selbst umgab sich über Jahrzehnte mit vergrößerten „Spielelementen“ in seinem winzigen Atelier. Um die „Totalität des Lebens“ einzufangen, genügten ihm wenige Figurentypen: Seine stehenden Frauen, Sinnbild lebensbewahrender Beständigkeit, zwingen den Betrachter, ihrem geradeaus gerichtetem, stummen Blick standzuhalten, während die rastlos schreitenden männlichen Figuren den Betrachter gänzlich zu ignorieren scheinen. Auch wenn er mehrere Figuren – oft miniaturhaft klein – zu Gruppen zusammenfügte, stellt sich keine Beziehung zwischen ihnen ein. Während „Platz“ (1950) noch filigrane Figuren zu einer „Vision“ zusammenführte, formte er dann für die Chase Manhattan Plaza in New York weit überlebensgroße, frei stehende Figuren. Eine „Große Frau“ von fast acht Metern Höhe zu schaffen, verhinderte 1966 der Tod.
Alberto Giacometti. Begegnungen, Bucerius Kunst Forum Hamburg, bis 20. Mai, Katalog 39,90 Euro. – Giacometti. Die Spielfelder, Hamburger Kunsthalle, bis 19. Mai. Katalog 29,00 Euro. Siehe auch Michael Peppiatt: In Giacomettis Atelier, Deutscher Kunstverlag, Berlin und München 2013, 207 Seiten, 48,00 Euro.
Schlagwörter: Alberto Giacometti, Bucerius Kunst Forum, Hamburger Kunsthalle, Klaus Hammer