von F.-B. Habel
„Ein aufregendes oder außergewöhnliches oder repräsentatives Leben gelebt und dieses Leben aufgeschrieben: hervorragende Bücher entstanden auf diese Art häufiger als hervorragende Schriftsteller. Erst das zweite Buch, für das sich keine vom Leben vorgezeichnete Fabel anbietet, entscheidet über Rang und Begabung im Poetischen.“ Der das in der Weltbühne Nr. 15 von 1970 aufschrieb, stand gerade im Begriff, seine Arbeit als Verlagslektor zu beenden. Richard Christ schrieb von jetzt an regelmäßig in der Weltbühne, auch in der Wochenpost und im Magazin, aber er hütete sich davor, einen „Lebensroman“ zu verfassen. Feuilletonistische Texte, Kurzprosa – oft stark satirisch – und Reiseliteratur blieben seine Stärken. Sein Herz gehörte dem indischen Subkontinent – das Land und Leute liebevoll beschreibende Buch „Mein Indien“ und „Alt-Delhi, Neu-Delhi“, ein mit Arno Fischer gestalteter Bild-Text-Band, sind noch heute gesuchte Werke bei Bibliophilen.
Gestandene Weltbühnen-Leser wissen natürlich, dass Richard Christ eine ganz besondere Freundschaft pflegte: „Mein Freund Ziberkopf“, von dem es Dutzende Geschichten gibt, die von Manfred Bofinger illustriert, auch als kleines Bändchen im Verlag Tribüne erschienen. Ziberkopf war stets dem Widersinn auf der Spur, entfaltete eine Phantasie, um die Welt so zu sehen, wie sie sein sollte oder könnte. Köstlich, wie der nunmehr verwaiste Ziberkopf von seiner Buchhändlerin erzählt, die Dürrenmatts „Panne“ ins Regal für Kraftfahrzeugfreunde stellt! Ein weiteres Gebiet, auf dem Richard Christ tätig war, war das Radio-Essay. Sicherlich wird er noch wahrgenommen haben, dass Deutschlandradio in seiner verdienstvollen Reihe „Aus den Archiven“ zu Jahresbeginn Christs 40 Jahre altes Feature „Aber – glauben Sie das?“ über den Aberglauben wiederholte. Der einst Unermüdliche, 1931 in Speyer geboren, ist am 15. März 82jährig gestorben.
Es ist schon wunderlich, wie Menschen, die jahrzehntelang aus dem kulturellen Leben kaum wegzudenken waren, nun von uns gehen, ohne dass die Öffentlichkeit Notiz davon nimmt. Im Falle von Wera Küchenmeister, die Anfang April im 84. Lebensjahr starb, gab es wenigstens einige pflichtgemäße Meldungen. Die Brecht-Schülerin war gemeinsam mit ihrem Mann Claus Küchenmeister seit Ende der fünfziger Jahre eine höchst produktive Szenaristin, der der Kinder- und Jugendfilm besonders am Herzen lag. So schrieb sie für Heiner Carows Film „Sie nannten ihn Amigo“ das Lied „Wer möchte nicht im Leben bleiben“ mit der Musik von Kurt Schwaen, das zum Volkslied wurde. Sohn Daniel stand im Mittelpunkt des Buches „Daniel und der Weltmeister“, das bei der DEFA mit dem Rad-Weltmeister Täve Schur verfilmt wurde. „Der Meisterdieb“ und „Gevatter Tod“, die Wera Küchenmeister gemeinsam mit Wolfgang Hübner schrieb, hatten philosophische Tiefe und gehören zum Besten, was im DDR-Kinderfernsehen entstand.
Für einen Kinderfilm schuf Harry Leupold seine ersten großen Filmbauten. „Mohr und die Raben von London“ erzählte nach einem Buch von Ilse und Vilmos Korn von der Familie Marx. Der Film, der 1968 in Schwarzweiß und Breitwand gedreht wurde, zeigte den Alltag im London von 1856 voller Lebendigkeit. Leupold ließ Wohnstuben, die Oxford Street oder auch die Tuchfabrik zum Mitspieler werden, schaffte eine leichte Stilisierung, die der Phantasie des Zuschauers auf die Sprünge half. Dabei hatte der ehemalige Theaterszenenbildner zuvor auch schon einen ganz realistischen Film im Stil der Nouvelle vague betreut. In „Jahrgang 45“ erzählte Regisseur Jürgen Böttcher so realistisch von jungen Ostberlinern kurz nach dem Mauerbau, dass der Film 1966 nicht erscheinen durfte. Unter den rund 50 DEFA-Filmen, für die Leupold verantwortlich zeichnete, waren auch zwei „Kultfilme“. Für „Die Legende von Paul und Paula“ schuf er 1972 ein Szenenbild, das die „Flower Power“ in die DDR holte, und in „Sieben Sommersprossen“ gelang es ihm 1978 erneut, Realismus und jugendliche Phantasie miteinander zu verbinden. Die Stoffe, die er betreute, spielten im 18. Jahrhundert in der Schweiz oder in den 1930er Jahren in Böhmen, und immer gelang es ihm, die historisch richtige Atmosphäre mit dem Charakter des Films in Einheit zu bringen. Als er Anfang April im 85. Lebensjahr starb, wurde es nur durch Freunde im Netz bekannt.
Ein weiterer „Kultfilm“ machte Regine Albrecht bekannt. Sie war 1967 die flotte Brit in dem Film-Musical „Heißer Sommer“. Wer den Film lange nicht gesehen hat: Frank Schöbel bekam hier nicht Chris Doerk, sondern eben Regine Albrecht. Die ehemalige Stenotypistin der DEFA war eins der Film- und Fernsehgesichter der siebziger Jahre, spielte bei Frank Beyer, Günter Reisch und Horst Seemann. Doch bald entdeckte sie, dass sie mit ihrer Stimme besonderen Erfolg hatte und wurde eine gesuchte Sprecherin, vor allem im Synchron-Atelier. Auch als Regisseurin am Potsdamer Hans-Otto-Theater schuf sie bis in die jüngste Zeit sehenswerte Inszenierungen. Mit noch nicht 65 Jahren ist sie im März gestorben.
In einer Hauptrolle war Regine Albrecht 1974 in dem Fernsehspiel „Der Sommer der 17. Puppe“ zu sehen. Das war eher ein Nebenwerk des feinsinnigen und belesenen Regisseurs Wolf-Dieter Panse. Seinen ursprünglichen Beruf als Schauspieler (junger König im DEFA-„Schneewittchen“, 1961) gab er nach und nach auf, schuf Literatur-Adaptionen und Gegenwartsfilme für den Fernsehfunk. Mitte der siebziger Jahre experimentierte er mit der Video-Technik, setzte den Ü-Wagen nicht mehr wie bis dahin üblich, für Sportübertragungen, sondern für filmische Werke ein und krönte diese Versuche 1978 mit dem Fünfteiler „Scharnhorst“. Endlich konnte mit elektronischer Technik ohne künstlerische Verluste an Originalschauplätzen historischer Ereignisse gedreht werden! Mit „Adel im Untergang“ nach Ludwig Renn und „Bebel und Bismarck“ folgten weitere historische Sujets, die Panse zu spannender Geschichtsbetrachtung werden ließ. Seit Beginn der sechziger Jahre hatte sich Wolf-Dieter Panse sporadisch der Ausbildung junger Schauspieler gewidmet und wurde von Rektor Lothar Bisky 1987 als Regie-Professor an die Babelsberger Filmhochschule geholt. Zu Wende-Zeiten folgte er ihm im Amt, führte die HFF fünf Jahre lang erfolgreich ins größere Deutschland, machte aber keine glückliche Figur, als versucht wurde, der Bildungseinrichtung den Ehrennamen „Konrad Wolf“ abzuerkennen. Die Studenten waren es, die diese Freveltat verhinderten! Als die HFF „Konrad Wolf“ kürzlich vermeldete, dass der ehemalige Rektor 82jährig gestorben sei, griff nur das Feuilleton der jungen welt diese Nachricht auf. In welcher geschichtsvergessenen Zeit leben wir nur!
Auch der Tod des Mannes, der mit all den Genannten direkt oder indirekt gearbeitet hatte, wurde nur beiläufig zur Kenntnis genommen. Am Ostermontag starb mit 80 Jahren Horst Pehnert, der ehemalige langjährige „Filmminister“ der DDR, oder richtig Stellvertretende Minister für Kultur – zu einer Zeit, als man die Kultur staatlicherseits noch wichtig nahm. Der Journalist aus Borna nahm einen rasanten Aufstieg zum Chefredakteur der Jungen Welt mit Mitte 30, war ab 1971 stellvertretender Chef des Staatlichen Fernsehkomitees, ehe er 1976 zum Leiter der Hauptverwaltung Film avancierte. Nach dem Skandal der Biermann-Ausbürgerung war es kein leichtes Amt. Horst Pehnert versuchte, Vieles zu befördern, Einiges zu verhindern, und sein Bild schwankt in der Rückbetrachtung. Es gab Dissidenten, die ihm Arbeit zu verdanken hatten, und solche, die ihm die Schuld an ihrer Tatenlosigkeit gaben. Wenn ein Leben zu Ende geht, ist Zeit, in der Öffentlichkeit Bilanz zu ziehen. Das muss die Öffentlichkeit aber wollen. Von diesen Frauen und Männern, die auch ein Stück deutscher Geschichte bedeuteten, wäre noch immer – auch aus den Fehlern – zu lernen. Es zu unterlassen, ist widersinnig – ein Fall für den guten, alten Ziberkopf!
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