von Wladislaw Hedeler, z.Z. Karaganda
Wer im Winter nach Kasachstan kommt, muß auf Schneestürme gefaßt sein, die plötzlich hereinbrechen, den Verkehr zum Erliegen bringen und das Leben zu lähmen scheinen. Dann werden die Ausfallstraßen in den Abendstunden gesperrt. Wann Entwarnung ist, hängt vom Buran ab. Noch im März sind um Karaganda herum nur die Magistralen befahrbar, die Verbindungsstraßen zwischen den kleineren Ortschaften sind Eispisten oder unter dem Schnee kaum auszumachen; Feldwege gibt es erst wieder, wenn das Tauwetter vorüber ist. Was von Oktober bis April jenseits der befahrbaren Trassen liegt, ist so gut wie unerreichbar.
Bei gutem Wetter ist der Horizont kaum zu erkennen, die glitzernde Schneedecke über der Steppe verschwimmt irgendwo in der Ferne mit dem Himmel. Entlang der Straße nach Prostornoe und Burma, die Orte liegen gut 120 Kilometer von Karaganda entfernt, wechseln sich nur die Telegraphenmasten ab, die Gegend wird immer hügeliger, je weiter man fährt. Dann und wann sieht man einige Pferde, die mit den Hufen im Schnee scharren. Schließlich tauchen die ersten Pappelanpflanzungen auf, es kann nicht mehr weit sein.
»Wir fuhren«, erinnerte sich Margarete Buber-Neumann, die als »Stalins Gefangene« hierher verschleppt wurde, »drei Stationen mit der Eisenbahn, immer durch Lagergebiet, und wurden in Sharik ausgeladen. Von dort aus ging es ungefähr zehn Kilometer zu Fuß durch die öde, flache Steppenlandschaft, wo kein Baum, kein Strauch wächst. Fern am Horizont sah man Gebirgszüge.«
Noch am Morgen zeigt das Thermometer zwanzig Grad unter Null an. Viele Gehöfte in Dolinka, dem einstigen Sitz des Karagandinsker Besserungsarbeitslagers des NKWD der UdSSR, liegen wie ausgestorben, aus den Schornsteinen der Katen steigt kein Rauch auf. Nur die Hunde schlagen an, wenn man in die Nähe der Zäune kommt. Kohle ist zu teuer, die mit Kohle beladenen Kipper stehen am Stadtrand von Karaganda, die Fahrer sitzen herum, rauchen, sie warten auf zahlungsfähige Kunden. In den Dörfern auf dem ehemaligen Territorium des kasachischen Gulag heizen viele mit Holz. Es ist zwar untersagt, Bäume zu fällen, doch die Leute holen ihr Feuerholz weiter aus den Windschutzstreifen rings um die schon lange nicht mehr bestellten Felder.
Die Pappeln sind Mitte der dreißiger Jahre von Gulag-Häftlingen gepflanzt und mühselig aufgezogen worden. Jedem Baum war ein Häftling zugeteilt, der die vorgegebene Gießnorm strikt einzuhalten hatte. Heute verheizen Alte und Junge, die Soldaten aus den Kasernen und die Beschäftigten von nach wie vor existierenden Straflagern, was von der einstigen Häftlingsarbeit übrig ist. »So haben wir wenigstens auch was vom Gulag«, sagen die Soldaten und schieben einen Stamm, der die Straße versperrt, zur Seite. Dann laden sie ihn auf den Laster, lachen und verschwinden.
Überall lugen Baumstümpfe aus dem Schnee hervor – wie Grabsteine. Unweit davon ragen an Feldrainen in langen Doppelreihen verkohlte Stämme in den Himmel. Einstige Bewässerungskanäle sind versandet und zu wilden Müllkippen geworden, das Schleusensystem ist verrottet – die Bäume sind vertrocknet, die Felder versandet. Am Wegesrand immer wieder unbeaufsichtigte mit Holz beladene Schlitten. Ihre Besitzer kommen erst wieder hervor, wenn die Fremden weg sind oder sie sich sicher sind, daß von ihnen keine Gefahr ausgeht.
Sie kennen das Revier und wissen, wo es noch Bäume mit Stacheldrahtresten in der Rinde gibt. In der Nähe befanden sich einst die Obstplantagen und die Gewächshäuser des »Kommandantenlagers«. Einige Häftlingsbaracken stehen noch. In den Baracken wohnen heute die ärmsten der Armen. Die Dächer fallen ein, die großen Lehmziegel sind nicht mehr zu gebrauchen. Anders die gebrannten Ziegelsteine der ehemaligen Bürogebäude des Karlag mit ihrer unverkennbaren Architektur. Das Lagerkontor in der Nähe der Kirche hat irgendwer aufgekauft und dann eingerissen. Nur die Reste der Säulen, die den Haupteingang schmückten, stehen noch. Die Ziegelsteine sind begehrt und bringen ein Vielfaches des Kaufpreises ein.
Auch am 8. März bringen die Frauen Milch, Molkereiprodukte, Obst und Gemüse auf den Markt in der Stadt. Sie kommen aus den umliegenden Dörfern. An diesem Tag sind es auffallend weniger als sonst. Ein böiger Wind fegt durch die Stadt und wirbelt den Schnee auf. Aufsteller liegen herum, der Müll ist längst aus den stets offenen Abfallkästen inmitten der Wohngebiete herausgeflogen. Überall sind Schneewehen zu sehen. Das nach dem Regen der Vortage glattgewaschene Eis auf den Bürgersteigen bekommt im wahrsten Sinne des Wortes den letzten Schliff. Am Frauentag, in Kasachstan ein offizieller Feiertag, haben viele Geschäfte, die Lebensmittelläden ausgenommen, geschlossen. Da der 8. März auf den Montag fällt, fanden die ersten Feiern schon am Freitag statt. Auf den Straßen ist wenig Verkehr. Die Stadt liegt wie ausgestorben. Bei den anhaltend niedrigen Temperaturen und dem eisigen Wind sind sogar die Straßenhändler nicht an ihren gewohnten Plätzen. Kaum vorstellbar, daß in einer Woche Frühlingsanfang ist. Dann sind es noch zwei Tage bis zum kasachischen Neujahrsfest Naurys.
Naurys ist seit Gründung der Republik Kasachstan staatlicher Feiertag. Aber auch schon vor der Unabhängigkeit wurde dieses traditionelle Familienfest begangen. Auf dem für den Verkehr gesperrten Prospekt Buchar Shirau steht eine Jurte neben der anderen. Musik ist zu hören, Festredner wechseln einander ab, es riecht nach Schaschlik, an vielen Ständen werden Süßigkeiten und Gebäck angeboten. Es ist warm, es taut. Man feiert im Kreis der Familie den Beginn eines neuen Lebens, verzeiht einander und erläßt Verwandten – und sei es nur symbolisch – die Schulden aus dem vergangenen Jahr. An diesem Tag gibt es unbedingt ein Nationalgericht: eine Milchsuppe, der mindestens sieben Zutaten beigemischt sein müssen. Graupen, Reis, Zucker und Kefir sind auf jeden Fall dabei. Alle weiteren hängen vom Einkommen ab. In dem Geschäft um die Ecke, in dem ich mir die Zutaten ansehe, kann die Verkäuferin nicht herausgeben. »Hölzer oder ’nen Bonbon?«, fragt sie. Schwere Entscheidung, sage ich, und erkundige mich, ob sie noch die Streichholzschachteln mit der Rose auf dem Etikett hat. Nein, sagt sie, die gab’s nur zum Frauentag. Also entscheide mich für den Bonbon, denn Hölzer mit dem Doppeldecker auf der Schachtel habe ich schon genug.
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