von Kai Agthe
Bei dem großen Interesse an der Gruppe 47 und all den speziellen Studien, die von den Germanisten in den letzten Jahren und Jahrzehnten über sie publiziert wurden, muss es überraschen, dass bis dato keine umfassende Darstellung ihrer Geschichte vorlag. Diesen Missstand hat nun Helmut Böttiger, ein ausgewiesener Kenner der Literaturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, endlich behoben. Auf mehr als 450 Seiten breitet er kurzweilig und hochinformativ die rund vier Jahrzehnte umfassende Historie dieser von Hans Werner Richter gegründeten losen Autoren- und Kritikergruppe aus, die für die deutsche Literatur segensreicher wirkte als alle elektronisch vermittelten Literaturmultiplikatoren.
Der Anspruch, mit der Richter im Jahr 1947 begann, etablierte und jungen Schriftsteller (anfangs zweimal, später einmal jährlich) zu Treffen einzuladen, war ebenso bescheiden wie anspruchsvoll: Richter wollte mit den Manuskript-Lesungen im überschaubaren Kreis einen Beitrag leisten, der deutschen Literatur wieder eine Stimme zu verleihen und neue Stimmen für die durch die NS-Ideologie vergiftete Dichtung zu finden. Dass der Autorenkreis 1963 von einem CDU-Eiferer namens Josef-Hermann Dufhues „geheime Reichsschrifttumskammer“ genannt wurde, zeugte von vollkommener Unkenntnis der Gruppe 47 und ihrem Anliegen.
Die Lesungen fanden in den vierziger und fünfziger Jahren meist abseits der urbanen Zentren statt. Erst in den sechziger Jahren traf man sich in West-Berlin (1965) und – als die Gruppe 47 dann im Ausland wahrgenommen wurde – auch in Schweden (1964) und den USA (1966). Die Tagung in Princeton stellte eine Zäsur dar. Denn hier hielt ein gewisser Peter Handke den Akteuren der Gruppe 47 literarische Impotenz vor. Auch wenn er glauben machen wollte, dass seine Unmutsäußerung spontan gewesen sei, hatte der bemüht-zornige junge Mann mit dem Bubi-Schnitt die Aktion von langer Hand geplant. So abstrus der Vorwurf auch war, er verfehlte seine Wirkung nicht: Handke nervt bis heute als hypersensibler Provokateur. Zu den ästhetischen Differenzen kamen in der Folge auch politische Meinungsverschiedenheiten, die unter anderem während des Vietnamkrieges und nach dem Mauerbau zwischen den Autoren aufbrachen. All das wird von Helmut Böttiger ebenso detailreich wie kurzweilig rekonstruiert.
Hans Werner Richter war vom Anfang bis zum Ende das Oberhaupt der Gruppe 47. Er rief sie ins Leben, er dekretierte nach dem Einmarsch der Armeen des Warschauer Pakts in der CSSR 1968 auch, dass er erst wieder zu einer Tagung einladen wolle, wenn das in einer freien Tschechoslowakei geschehen könne. Statt 1968 konnte man sich daselbst erst 1990 treffen. Mit der Gewissheit, sein Versprechen nach immerhin 22 Jahren eingelöst zu haben, konnte Hans Werner Richter, der 1993 starb, einen Schlussstrich unter seine Gruppe 47 ziehen.
Helmut Böttiger porträtiert neben Autorinnen und Autoren, die, wie Ingeborg Bachmann und Günter Grass vor allem durch die Gruppe 47 einer breiten Leserschicht bekannt wurden, auch jene, die zu Lebzeiten und posthum weniger Aufmerksamkeit erfahren haben. So etwa Gisela Elsner oder der als Autor und Kritiker tätige Walter Höllerer, der später das Literarische Colloquium in Berlin gründete und damit an das Wirken der Gruppe 47 anknüpfte. Natürlich gab es auch Schriftsteller, die menschenscheu genug waren, nicht auf den Zusammenkünften der Gruppe 47 zu lesen, obwohl auch sie einen nachhaltigen Beitrag für die zeitgenössische deutsche Literatur leisteten. Zu diesen zählten Arno Schmidt und Wolfgang Koeppen.
Joachim Kaiser, wie Marcel Reich-Ranicki der letzte noch agile Großkritiker der Gruppe 47 (die dem ungezwungenen literarischen Austausch freilich nicht immer förderlich waren), sagte über Helmut Böttigers Studie, dass es die „weitaus beste publizistische Darstellung, die es gegenwärtig über die Gruppe 47 gibt“, sei. Dem Fazit wird man sich nahtlos anschließen können: Es existiert keine bessere Studie zu diesem gewichtigen Kapitel deutscher Literatur.
Helmut Böttiger: Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012, 477 Seiten, 24,99 Euro.
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