von Kai Agthe
Es waren einmal zwei Brüder, die zahllose Märchen, welche sie mit Bieneneifer sammelten, mit der Floskel „Es war einmal …“ beginnen ließen. Die aus Hanau gebürtigen Jacob und Wilhelm Grimm sind die Begründer der modernen Märchenforschung. Auch wenn die Wissenschaft ihre Passion war, die sich unter anderem in dem Mammutprojekt des „Deutschen Wörterbuchs“ manifestierte, so haben ihre Biografien etwas Märchenhaftes. Denn sie schworen sich in jungen Jahren, nicht voneinander lassen zu wollen. Obwohl Wilhelm Grimm heiratete, bildeten die Brüder, gleich ob in Kassel oder Berlin, stets eine Hausgemeinschaft. Wie Briefe zeigen, die sie in den kurzen Zeiten der Trennung einander schrieben, fühlten sie sich beide unwohl, wenn der jeweils andere nicht zugegen war. Sie trennte zwar ein Jahr – Jacob wurde Anfang Januar 1785 geboren und Wilhelm Ende Februar 1786 –, aber ihrem Auftreten und Selbstverständnis nach hätten sie auch eineiige Zwillinge sein können.
Kurt Franz und Claudia Maria Pecher stellen das Leben des universal gebildeten Brüderpaars kurz und bündig in der Reihe „Bertuchs Weltliteratur für junge Leser“ vor. Ein Grund: 2012 wurde an den 200. Jahrestag der Erstveröffentlichung der Textsammlung erinnert, die Jacob und Wilhelm Grimm zu bleibender Berühmtheit verhalf: Der erste Teil der „Kinder- und Hausmärchen“ erschien 1812, der zweite folgte drei Jahre später. Das Autorenduo stellt sehr schön die Werkgenese dieser Sammlung dar. Die Erstausgabe richtete sich an Kinder, war aber mit einem Anhang versehen, der auch die Zunftkollegen zufriedenstellen sollte, die einen wissenschaftlichen Anspruch hatten. Dieses Missverhältnis gegenüber dem Adressatenkreis wurde erst in den späteren Ausgaben behoben.
Ein spannendes, ebenfalls jugendgemäß aufbereitetes Kapitel ist den Eingriffen gewidmet, die die Grimms in den Märchen vorgenommen haben. Nicht nur, dass sie oft und gern, aber ohne nachvollziehbaren Grund, die regionale Herkunft der Märchen verschleierten, auch diejenigen, die ihnen die Geschichten mitteilten, wurden nur selten beim Klarnamen genannt. Bekannt ist auch, dass die Grimms inhaltliche Veränderungen vornahmen. Drastische Äußerungen, sei es Gewalt oder Szenen, die auf sexuelle Handlungen hindeuteten, wurden von den Herausgebern stillschweigend geglättet. „Ad usum Delphini“ wurde diese entschärfende Bearbeitungspraxis seit dem 17. Jahrhundert genannt. „Wilhelm“, so Kurt Franz und Claudia Maria Pecher, „hat im Laufe der Zeit fast alle Märchen bearbeitet, manche fast ganz umgeschrieben oder Teile sogar selbst neu verfasst …“ Es dauerte lange, bis die Germanistik dem auf die Spur kam. Heinz Rölleke, der Nestor der Märchenforschung, hat das Grimmsche Verfahren jüngst in dem von Albert Schindehütte edel illustrierten Band „Es war einmal: Die wahren Märchen der Brüder Grimm und wer sie ihnen erzählte“ anschaulich erläutert.
So unverzichtbar die „Kinder- und Hausmärchen“ für Leser jeden Alters, so unentbehrlich ist das erst 1960 abgeschlossene „Deutsche Wörterbuch“ für Sprachforscher: 16 Bände – mit allen Teilbänden sogar 32 –, das sind, wer auch immer hier nachgerechnet hat, 300 Millionen Zeichen, die, von fleißigen Datentypistinnen in China elektronisch erfasst, nun auch auf einer CD-Rom vorliegen. Zur Etymologie des deutschen Wortschatzes gibt es nichts Substanzielleres als den Thesaurus der Grimms.
Jacob und Wilhelm Grimm haben den ersten großen Schritt über jene Schwelle gewagt, die in das Wissenschaftszeitalter führt. Sie haben, getrieben von nie versiegender Neugier, Wegweisendes für die Herausbildung der deutschen Sprach- und Literaturgeschichte geleistet. Dieses Wissen zieht der Leser aus dem mit viel O-Ton versehenen Doppelporträt von Kurt Franz und Claudia Maria Pecher.
Kurt Franz / Claudia Maria Pecher: Kennst du die Brüder Grimm?, Bertuchs Weltliteratur für junge Leser, Band 13, herausgegeben von Wolfgang Brekle, Bertuch-Verlag, Weimar 2013, 119 Seiten, 14,80 Euro
Schlagwörter: Claudia Maria Pecher, Jakob Grimm, Kai Agthe, Kurt Franz, Märchen, Wilhelm Grimm