Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 1. März 2004, Heft 5

Tolle Kollekte

von Erhard Crome

Das wird ja eine tolle Kollekte, dachte sich wohl der Eichel, als er die fiktiven Mauteinnahmen schon mal verbuchte. Das Geld war zwar noch nicht da; aber es wurde behandelt, als klingelte es bereits im Kasten. Schöne Bilanzen, die so gemacht werden! Und der Stolpe, das wußte man, versteht ja auch was von der Kollekte. Das hatte er ja lange genug in der Kirche geübt. Warum also nicht an der Straße? Wegzoll war schon im Mittelalter eine sichere Einnahmequelle, zumindest wenn man an dem richtigen Weg hockte.
Einer Sache wähnte man sich auf jeden Fall sicher: Die deutsche Industrie werde es schon richten. Made in Germany hatte schließlich einen Platz im Denken. Nun haben große deutsche Konzerne – jedenfalls vorerst – das Handtuch geworfen, darunter DaimlerChrysler und die Telekom. Nachdem Stolpe sich dann doch zu einer Art Nein durchgerungen hatte, bezüglich einer Fortsetzung des bestehenden Vertrages, kam prompt der Clement und mahnte, dies schade dem »Ansehen der deutschen Industrie«. Wie jetzt? Schadete der Stolpe der Industrie, indem er die eigenartigen Vertragskonditionen gekündigt hatte, nach denen die Industriebarone höchstselbst zwar den Vertrag haben, aber keine Verbindlichkeiten tragen wollten, oder aber schadete die Industrie sich selbst, indem sie technologisch versagte, was sie geldmäßig selbstredend nicht tragen wollte? Wollte Clement jetzt den Stolpe für etwas verantwortlich machen, für das die Industrie verantwortlich war?
Wie dem auch sei: Der Ossi konnte gar nicht schuld sein, denn da gibt es ja keine Industrie mehr. Also konnte der Stolpe nur der Schmerzensmann sein, der jene Schuld auf sich nimmt, die anderen zukommt, tendenziell dem Wessi, was Clement ja gerade dementieren wollte.
Eigentlich durfte das nicht überraschen. Schon bei den Transrapid-Projektierungen hatte sich gezeigt, daß die Konzerne das Risiko des Unternehmens nicht tragen wollten. Sie wollten das Risiko sozialisieren, es dem Staat zuweisen, und die möglichen späteren Gewinne dann privatisieren, wie das so üblich ist.
Da die Grünen damals noch ein paar Einflußfelder benötigten, forderten sie, die staatliche Subventionierung zu deckeln. Schließlich sei das doch Grundregel der neoliberalen Weltordnung. Nein, nein, antwortete das deutsche Kapital, das gilt nur für den Proleten als solchen, nicht für uns. Wir wollten mehr staatliches Geld. Das kriegt ihr nicht, antwortete die Regierung, und also platzte das Projekt. Betreten machte sich der Schröder auf den Weg, um vielleicht die gewünschte Referenzstrecke in China zu erwirken. Vielleicht hätte man ja jetzt den chinesischen Raumfahrer fragen können, ob er von oben die deutschen Autos zählt und die Mautzettel ausfüllt.
Nun also Toll-Collect, wie vorher Transrapid und manches andere. »Das Kapital ist ein scheues Reh«, heißt es in den Katechismen der betriebswirtschaftlichen Volkswirtschaftslehre. Aber daß es so scheu ist, das hatte nicht einmal Bruder Stolpe gedacht. Früher, ja früher hatte man viel erwartet vom Unternehmer, zumindest, daß er etwas unternimmt. In den höchsten Tönen hatte der Barde des Kapitalismus, Werner Sombart (1863-1941), von der »Geburt des kapitalistischen Unternehmers« gesungen: »Der Kapitalismus ist das Werk einzelner hervorragender Männer, daran kann kein Zweifel sein. Jede Annahme einer ›kollektivistischen‹, gleichsam vegetativen Entstehungsweise ist falsch. Kein Mensch weiß, wer die Dorfgemeinschaft oder die Zünfte begründet hat. Sie sind wirklich gewachsen, ›organisch‹ entstanden. Alle und niemand und jeder sind an ihrer Entstehung beteiligt. Anders der Kapitalismus, der in Gestalt von ›Unternehmungen‹ zur Welt gekommen ist: in Gestalt also rationaler, überlegter, weitausschauender Bildungen des menschlichen Geistes. Im Anfang war die ›schöpferische Tat‹ des einzelnen; eines ›wagenden‹, ›unternehmenden‹ Mannes, der beherzt den Entschluß faßt, aus den Gleisen der herkömmlichen Wirtschaftsführung herauszutreten und neue Wege einzuschlagen.«
Was hätten das für schöne neue Wege auf den deutschen Autobahnen sein können! Aber weit und breit kein Mann zu sehen, erst recht kein unternehmender, wagender. Bis auf Stolpe, der, wenn auch hasenfüßig mit sich ringend, sich aus dem Vertrag mit den nichts Wagenden, Geistarmen und Unschöpferischen zu winden sucht. Im dritten Band des Kapitals von Marx, den Engels besorgt hatte, finden sich die langen Ausführungen zur Grundrente. Das sind die Einkommen der Grundeigentümer, die ein Monopol des Grundeigentümers haben, gegenüber dem noch unternehmenden Unternehmer des 19. Jahrhunderts, aber faktisch kein Risiko, und dennoch ein monopolistisches Einkommen beziehen.
Offenbar sehen sich die Herren der Welt von heute in eben einer solchen Monopolsituation, wo es nur eine »Grundrente« einzustreichen gilt, die mit Unternehmertum im Sinne von Sombart oder auch Schumpeter nun wirklich nichts mehr zu tun hat. Die absolutistische Feudalisierung des Spätkapitalismus schreitet weiter voran. Irgendwie scheint da doch was zu faulen. Deshalb stinkt auch die Toll-Collect-Sache so.