Des Blättchens 6. Jahrgang (VI), Berlin, 28. April 2003, Heft 9

Fliegender Holländer

von Erhard Crome

Die Weißen Tauben sind müde«, teilt ein angejahrtes Lied im Radio mit. Sind sie es? Kein Krieg in der bekannten Geschichte traf auf so starken Widerstand, bevor er tatsächlich ausgebrochen worden war. Die vielen Schüler, die so engagiert erstmals in ihrem Leben demonstrierten, sie werden nicht vergessen, daß sie dabei waren.
Im September vorigen Jahres in Brüssel – es tagte die »Internationale Programmgruppe« für das Europäische Sozialforum von Florenz – stellte jemand plötzlich die Frage, was wir denn tun würden, wenn die USA diesen angekündigten Krieg führten. Demonstrationen, in jedem Lande extra, zu unterschiedlichen Zeiten, seien den Herrschenden und ihren Gazetten nur ein paar Zeilen wert. Besser wäre, wir täten es alle gleichzeitig, in ganz Europa, wurde dann vorgeschlagen. Also, am Tag X, um 18 Uhr. Und wenn es länger dauern würde mit der Vorbereitung des Überfalls, sollten wir zuvor ein Zeichen setzen. Sie würden erst im späten Winter anfangen, sagte ein Engländer, schon wegen des Klimas.
So wurde der 15. Februar als der gemeinsame Tag der Friedensdemonstration vorgeschlagen. In Florenz hat die Versammlung der Sozialen Bewegungen Europas diesen Aufruf beschlossen, in Porto Alegre folgten die Sozialen Bewegungen aller Kontinente dem Vorschlag der Europäer und riefen zur weltweiten Demonstration auf. Natürlich sind die jungen Leute nicht am 15. Februar zur Siegessäule in Berlin (welch ein Bedeutungswandel!) gekommen, weil irgendjemand etwas beschlossen hatte. Durch diesen Beschluß aber wurde es eine einzige große Demonstration, weltweit, und alle waren eines Sinnes. Das war neu, und es bleibt, egal was immer die Herrschenden reden.
Derweil haben die USA und ihre Föderaten ihren Krieg geführt. Alle Ministerien in Bagdad wurden bombardiert, bis auf eines: das Ölministerium. Stolz wird mitgeteilt, daß die USA-Truppen alle Ölquellen des Irak unter Kontrolle hätten. Aber war denn etwas anderes zu erwarten? Die berühmten Museen mit den unersetzlichen Kulturgütern der Jahrtausende des Zweistromlandes wurden dagegen geplündert. Ein Zufall? Gerade wird berichtet, daß es natürlich nicht nur eine Öllobby gibt in den USA. Es gibt auch eine der Kunstsammler, die die US-Regierung aufgefordert haben, für eine »Liberalisierung des Kunstmarktes« einzutreten. Und da so viel Kunst, zumal alte, auf dem nordamerikanischen Kontinent nicht zu finden ist, kauft der Parvenü natürlich gern mal was aus dem alten Eurasien, schon um die eigene Villa mit einem Hauch von Kultur zu umgeben. Und Saddam Hussein, der Verbrecher, hatte ja neben allem anderen nicht nur die irakischen Ölquellen nationalisiert, sondern auch strenge Gesetze zum Schutz der Kulturgüter des Zweistromlandes exekutiert. Das soll nun anders werden. Beim vorigen Golfkrieg waren etwa viertausend unersetzliche Exponate im Irak geraubt worden und in den unergründlichen Tiefen des internationalen Schleichhandels verschwunden. Jetzt waren die Plünderungen offenbar nachhaltiger.
Daß sie den Krieg geführt haben wie Diebe, hatte jedoch auch ein Gutes. Sie mußten ihre Bombardements stets mit dem Argument versehen, sie würden nur das Regime treffen wollen, nicht die Bevölkerung. Jedes getötete oder verwundete Kind, das in den Medien erscheint, ist ein Argument gegen den Krieg. In den beiden Weltkriegen waren die Kriegsherren stolz auf ihre Bombenkriege; die Deutschen hatten ihn im Ersten Weltkrieg erfunden, dann im Zweiten weiterentwickelt: gegen Guernica und London und und und … Und schließlich hatten ihn die Briten und die Amerikaner in Dresden und Hiroshima perfektioniert. Auch im Vietnamkrieg war noch voller Eifer die Zivilbevölkerung mit »Bombenteppichen« belegt worden. Jetzt trauen sie sich das nicht mehr.
Es hat sich etwas gewandelt im Denken über eine friedliche Menschheitlichkeit. Rumsfeld und Bush erscheinen als Gestalten aus einer anderen Zeit, Zombies, der Hölle entstiegen, um die Menschen in Versuchung zu führen. »Selig sind die Friedfertigen …«, heißt es in der Schrift, auf die sich diese scheinfrommen Kriegsherren so gern berufen. Und die Friedfertigen sind mehr geworden, mehr denn je. Die Kriegstreiber stehen unter einem Rechtfertigungszwang wie noch nie in der Geschichte. Und all ihre Lügengespinste nutzen ihnen nichts. Das ist die vielleicht wichtigste Botschaft aus dem Kriege, der diesmal (noch?) nicht zu verhindern war.
Nein, die Weißen Tauben sind nicht müde. Angespornt durch ihren eigenen Kriegserfolg, wollen diese Herren schon bald den nächsten Krieg führen, von Syrien ist vermehrt die Rede. Das wäre ja vielleicht ökonomisch: die Truppen stehen in der Region, sind nicht so richtig »verbraucht«, da kann man das ja vielleicht gleich miterledigen. Fahren Sie nach Damaskus, bevor es so aussieht wie Bagdad jetzt! Es ist viel zu tun für die Weißen Tauben. Doch es besteht eine große Chance: Wenn diese Herren ihre Kriege schon zu führen gezwungen sind als Diebe, dann stehen sie bereits außerhalb von Recht und Sitte. Es kippt bald, und dann ist Kriegführen geistig verunmöglicht wie heute schon Sklaverei und in zivilisierten Ländern die Todesstrafe, und dann wird es auch praktisch unmöglich. Wir sind kurz davor. Und das macht Mut.
Wo, zum Teufel, ist eigentlich Saddam Hussein? Wird er, ähnlich Bin Laden, als Fliegender Holländer unverhofft immer wieder mal auftauchen und sich per Video oder Tonband aus einer Höhle melden? Man erwartet ihn gerade nicht, aber die Kriegsmänner brauchen ihn. Nur sie.