16. Jahrgang | Nummer 5 | 4. März 2013

Klagen, damit sich nichts ändert?

Der Streit zwischen der US-Regierung und Standards & Poor’s ist nicht das, was er scheint

von Roland Benedikter, Stanford

Die Fünf-Milliarden-Klage der US-Regierung gegen die amerikanische Ratingagentur Standard & Poor’s löst in Europa Jubel aus. Dass die mächtigste Regierung der Welt Schritte gegen ihren international fast ebenso mächtigen Rating-Apparat unternimmt, der in den vergangenen Jahren meist angloamerikanische Strategie-Positionen widerspiegelte und dabei nicht selten aktiv Globalpolitik machte, wie etwa in der Anwendung unterschiedlicher Bewertungsmassstäbe auf europäische und asiatische Länder, stößt auf breite Zustimmung. Von vielen wird die Ankündigung der Klage sogar als „Wende“ hinsichtlich der Stellung privater Agenturen im internationalen Finanzsystem verstanden. Daran sind aber bei näherer Betrachtung Zweifel erlaubt. Es ist im Gegenteil wahrscheinlicher, dass diese Klage dazu führen wird, dass sich am bisherigen System nichts ändert. Dafür gibt es mindestens vier gute Argumente. Diese werden in den USA derzeit kontrovers zwischen führenden Finanz- und Wirtschaftswissenschaftlern diskutiert. Kritiker fürchten, dass derartige juridische Verfahren nicht einen Vorlauf zu, sondern einen Ersatz für Systemkorrekturen darstellen. Inwiefern?

Das US-Justizministerium kündigte am 4. Februar an, Standard & Poor’s wegen illegalen Verhaltens bei der Beurteilung riskanter Immobilien-Anlagegeschäfte im Vorfeld der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 bis 2011 zu klagen. Durch tendenziöse Beurteilungen sei der Markt künstlich hochgehalten worden, was unter anderem unternehmensexternen Geldgebern der Agentur Vorteile verschafft habe, aber auch ihr selbst, also wenigstens teilweise in den Verdacht der Insider-Spekulation fallen könnte. Dieser Klage dürften sich einige US-Bundesstaaten mit dem Vorwurf des Zivilbetrugs, der Kundenschädigung sowie der „Schädigung der öffentlichen Sache“ anschließen. So weit, so gut. Doch hinter der Klage dürften aus Sicht der meisten US-Experten komplexere Gründe stehen, die nicht nur sachbezogen sind.

Erstens war Standards & Poor’s, die größte und wichtigste Ratingagentur der Welt, am 5. August 2011 die einzige Agentur, die sich traute, die USA im Gefolge des ausufernden Schuldenbergs und der wiederholten Erhöhung des Schuldenlimits von AAA auf AA+ abzuwerten. Bekanntlich sind die USA zwar strukturstärker, aber mit mehr als 100 Prozent Verschuldung bezogen auf das Bruttosozialprodukt inzwischen im Gefolge von Kriegen und Steuererleichterungen für Reiche auch höher verschuldet als die meisten, von den US-Ratingsagenturen bis an den Rand der Kreditunfähigkeit abgewerteten europäischen Länder. Die USA dagegen wurden bis zu Standard & Poor’s aufsehenerregendem Schritt, der das Weiße Haus zu mehreren historischen Erklärungen veranlasste, trotz der offenbaren Probleme politischer Lähmung, ideologischer Polarisierung oder künstlich überhöhten Dollarkurses aufgrund politisch-militärischer Hegemonie nie abgewertet. Dass Standards & Poor’s nun wegen zweifelhafter Bewertung von faulen Krediten im Vorfeld der internationalen Finanzkrise 2007 bis 2011 angeklagt wird, also mit gut sechs Jahren Verzögerung, erscheint vielen als Teil der weithin üblichen Einschüchterungsstrategie der US-Regierung gegen Unternehmen auf ihrem Boden, die ihr schaden. Die Klage scheint eine symbolische Retourkutsche mit klarer Aussage: Macht das nie wieder. Sie ist deutlich nicht nur an Standard & Poor’s gerichtet, sondern auch an die zwei anderen bislang global dominanten US-Agenturen Fitch Ratings und Moody’s, die durch die bloße Ankündigung der Klage gegen S&P massiv an Börsen- und Unternehmenswert verloren und also „mit gestraft“ wurden – was die US-Regierung natürlich bereits im Vorfeld genau wusste. Die Botschaft der Klage lautet: Amerika ist tabu; was ihr mit den anderen macht, ist eure Sache, solange es den amerikanischen Interessen nicht im Kern schadet. Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die zentrale Verankerung der drei wichtigsten Ratingagenturen der Welt in den USA erfolgt, und zwar als „nationally recognized statistical rating organizations (NRSRO)“ durch die U.S. Securities and Exchange Commission. Man übersehe hier nicht das „nationally“. Es verweist trotz deren Rolle als „global player“ auf eine deutliche nationale Bedeutung und Verantwortung. Die weitgehend unterschiedliche Bewertung von asiatischen und europäischen Ländern zum Beispiel spiegelte die amerikanische Vorherrschaftsstrategie – Barack Obamas „Asia First“ – wider. Sie diskriminierte in vielen Fällen Europa klar – bis zu dem Punkt, dass sogar die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton im Sommer 2011 öffentlich darauf hinwies, dass es doch seltsam sei, dass „zufällig“ immer dann, wenn schlechte Zahlen aus der US-Wirtschaft oder vonseiten der Federal Reserve Bank der USA kämen, ein europäisches Land spektakulär durch die drei US-Ratingagenturen abgewertet werde.

Zweitens wird bei der bislang im Raum stehenden Klage das eigentliche systemische Zentrum der Probleme, die Vermischung von Interessen der Finanziers der Ratingagenturen mit deren Vorhersagen, kaum oder zu wenig strukturell angegangen, sondern nur ad hoc – und genau das ist aus Sicht der Kritiker das Hauptproblem dieser Klage. Dass dabei irrational kurzfristige Schwankungen in den internationalen Bewertungen – wie zuletzt im Fall der Aufwertung Griechenlands durch Standard & Poor’s auf einen Schlag um sechs (!) Stufen am 18. Dezember 2012 allein aufgrund der Aussagen von EZB-Gouverneur Mario Draghi zur europäischen Stabilitätspolitik – nicht in das Gesamtpaket der Überprüfung von Ratingpraktiken einbezogen werden, diskreditiert die Motive und den Bedeutungsumfang der Klage noch mehr. Denn in Griechenland hat sich an der Wirtschafts- und Finanzleistung, der Wettbewerbsfähigkeit oder den Lohnstückkosten in so kurzer Zeit sicher nichts sechs Stufen zum Besseren gewendet. Das stellt Fragen an die Grundsatzgüte der Ratingpraktiken von Privatfirmen wie Standard & Poor’s. Überprüft werden müssten also die Kriterien der Bewertung, die zu solch abenteuerlichen Urteilen führen, von denen heute aber ganze Volkswirtschaften und damit große Teile der Weltbevölkerung auf Wohl und Wehe abhängig sind. Das geschieht aber im Rahmen der vorliegenden Klage in keiner Weise.

Drittens ist die Klage Ausdruck der typischen US-Tradition „kleiner Regierung“, die sich im US-Wahlkampf 2011/2012 zwischen Obama und Romney tendenziell eher verstärkt als vermindert hat. Statt einen mittlerweile problematischen Schlüsselbereich wie den Ratingbereich mit Gesetzen zu regeln, begibt sich die Regierung auf Augenhöhe mit einem Unternehmen und führt einen Prozess gegen dieses – als gleichberechtigter Kläger. Ironischerweise begibt sich damit die US-Regierung zugleich auf die Ebene ihrer Kritiker unter anderem in der blockfreien und der islamischen Welt, die immer schon die Ausbeutung durch den US-dominierten Finanzsektor kritisierten, diesem faule Praktiken vorwarfen und in der Klage nun ein indirektes Schuldeingeständnis der USA im Hinblick auf die Kriminalität ihrer Finanzinstitutionen sehen.

Viertens ist der Ausgang in solchen Fällen vorhersehbar: Statt Neuregelung des Bereichs und gesetzlicher Änderung der Praktiken gibt es im Wesentlichen nur einen strafenden „Hinweis“ der Regierung, das nächste Mal „besser aufzupassen“. Verfahren wie das nun angestrebte enden fast immer mit einem Vergleich und einer – meist relativ hinnehmbaren – Finanzzahlung, womit alles endet. Siehe zuletzt etwa den Fall BP im Hinblick auf die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko. Kritiker befürchten, die globale Macht der Ratingagenturen soll nicht angetastet werden, weil das letztlich nicht im Interesse Amerikas zu sein scheint, das sich in seiner Selbstwahrnehmung ohnehin im Abstieg befindlich fühlt. Mit der Klage wird zwar der Eindruck erweckt, die Obama-Regierung würde auf dem Finanzsektor handeln – bei den eigenen Bürgern ebenso wie international. Doch schon dass sich Obama erst jetzt, in der ersten Hälfte seiner zweiten Amtszeit, der klassischen Periode „totaler Freiheit“ jedes US-Präsidenten, ein solches Vorgehen zutraut, ist vielsagend. In Wirklichkeit wird eher als für Handlung in Richtung Neuerung für zweierlei gesorgt: Erstens, dass sich niemand mehr trauen soll, Amerika trotz seiner Struktur- und Schuldenprobleme nicht mit der Höchstnote zu bewerten. Zweitens, dass im Wesentlichen das meiste beim Alten bleibt und die globalen Finanzflüsse auch weiterhin mittels des de facto Hilfsinstruments der globalen Ratings von Amerika aus kontrolliert werden.

Fazit? Insgesamt ist die Klage höchstens Ausdruck von Symbolpolitik, nicht von Strukturveränderung seitens der US-Regierung. Sie ist entweder ein Zeichen ihrer Einflusslosigkeit auf den Finanzsektor in einem Land der „kleinen Regierung“, oder aber ein Zeichen ihres Unwillens, einen Pfeiler ihrer bisherigen Weltherrschaft zu verändern. Bereits im Januar 2011 hatte die zehnköpfige Experten-Untersuchungskommission zur Finanzkrise der USA (FCIC, Angelides Commission) die drei maßgeblichen Ratingagenturen als „im Kern essentielle Ursachen im Rad der finanziellen Vernichtung“ und als „Schlüsselfaktoren der Finanzkrise“ bezeichnet. Nun aber erfolgen als Konsequenz aus dieser Einsicht Klagen statt Systemkorrekturen. Dass statt Gesetzesänderungen Klagen erfolgen, zeigt, dass bis auf weiteres wenig substantielle Änderung zu erwarten ist – unbeschadet der Schaffung etwaiger Präzedenzfälle. Im Gegensatz zum heutigen Vorgehen der US-Regierung hat Europa weit mehr in Gang gesetzt: Die Gründung einer halböffentlichen europäischen Ratingagentur wurde lanciert, die Pluralisierung des Rating-Marktes beschlossen, eine komplexere und multidimensionalere Neuordnung der Rating-Maßstäbe bereits weit vorangetrieben.

Was bedeutet das für die kommenden Jahre? Was die internationale Finanz- und Wirtschaftswelt in der gegenwärtigen Übergangsphase braucht, sind nicht Klagen von Regierungen gegen übermächtige Privatakteure, die sich des internationalen Systems bemächtigt haben. Sondern sie braucht eine Neuregelung der internationalen juridischen Grundlagen, Verbindlichkeiten und Folgen der Rating-Tätigkeit. Das schließt den Aufbruch von faktisch bestehenden Monopolen ein ebenso wie eine stärkere Transparenz zwischen den Geschäften derjenigen, die die Ratingagenturen finanzieren, und der konkreten Bewertungstätigkeit der Agenturen, die ihren Financiers nicht selten zugute kommen. Es betrifft die Einführung neuer Maßstäbe für die Notenvergabe, die pluraler sind und an die heutige Zeit angepasst sind, statt nur die alten Kriterien von Bruttosozialprodukt, Wachstum, Schuldenstand, Neuverschuldung in Bezug auf das Bruttosozialprodukt und Entwicklungsaussichten, also die traditionellen Kriterien der Ford- und Post-Ford-Ära widerzuspiegeln. Künftig müssen als Kriterien unter anderem hinzukommen: soziale Partizipation, Ungleichheit zwischen Bevölkerungsteilen, Wohlstandsniveau, Nachhaltigkeit und grüne Innovation, Ressourceneffizienz, nationaler Wirtschafts-Umweltbelastungsfaktor, Meritokratie, allgemeine technologischer Innovationsgrad, gesamtgesellschaftliche Modernisierungsgeschwindigkeit, Strukturstärke, Qualität und Quantität der internationalen Vernetzung unter anderem des Banken- und Finanzsektors, sowie die Relation zwischen privaten und öffentlichen Schulden, die zum Beispiel in den USA im Vergleich zu Europa katastrophal ist, weil Europa Staatsschulden macht und den privaten hohe Steuern auferlegt, Amerika aber sowohl hohe Staatsschulden bei relativ niedrigen Steuern hat, aber die meisten in Europa vom öffentlichen Sektor getragenen Leistungen den Privaten in Form von Privatschulden auferlegt. Amerika hat heute zwar 16,5 Billionen Dollar Staatschulden, aber mehr als 45 Billionen Privatschulden zusätzlich, was in Europa nicht der Fall ist. Wer in einem gesamtstaatlichen Rating mit Entwicklungsaussichten derartige Grundparameter nicht einbezieht, geht an der heutigen Realität sträflich vorbei – so wie die heutigen US-Ratingagenturen, die all diese Faktoren einfach ignorieren. Außerdem sind die Ratingagenturen heute die einzigen globalen Machtzentren, die alle anderen bewerten und dadurch große Macht über komplexe Entwicklungsprozesse ausüben, aber selbst als einzige nicht bewertet werden, dabei aber ganze Volkswirtschaften mitlenken. Dass sie selbst bewertet werden und es klare Kriterien dafür gibt; was sie wann berichten dürfen; inwiefern ihre Kriterien allgemeingültig normiert sowie global gleich und transparent angewendet werden und was und wo die Bewertungsgrenzen privater Einrichtungen sowie ihr Verhältnis zu ihren künftig voraussichtlich bestehenden halböffentlichen Konkurrenten liegen, das muss bestimmt werden. Das bedeutet nicht die Einschränkung von Freiheit, sondern die Schaffung von Fairness, die es derzeit international nicht gibt. Es bedeutet nicht Sozialismus, sondern eine liberalere Weltordnung in konkreterer Form als bisher.

Klagen wegen unlauterer Geschäftspraktiken in Einzelfällen helfen bei alledem wenig weiter. Dass in Deutschland und Europa solche Neubewertungen auch mit Blick auf den wirtschaftlichen Gesamterfolg einer Nation bereits aktiv erwogen werden und politisch vor der Verwirklichung stehen, ist ermutigend. Die europäische Systementwicklung geht viel weiter als jede bloß symbolträchtige Klage der US-Regierung, die letztlich nur dazu führt, dass um den Preis einer bedingten Strafzahlung alles beim Alten bleibt – was derzeit progressiven Finanz- und Wirtschaftswissenschaftlern in den USA selbst am meisten Sorgen macht, so unter anderem den Nobelpreisträgern am „Institute for A New Economic Thinking“ (INET) in New York. Dass die USA und Großbritannien bereits angekündigt haben, sich an einer Neuregelung des internationalen Finanzsektors nur eingeschränkt oder wenig aktiv zu beteiligen, weil sie Schaden für die Finanzplätze New York und London befürchten, ist kein ermutigendes Zeichen. Aufsehen erregende Spektakel wie Regierungsklagen gegen Private können darüber nicht hinwegtäuschen. Obama braucht in den kommenden Jahren weit mehr Mut, Strukturverbesserungen im internationalen System durchzusetzen, als Klagen gegen Unternehmen zu lancieren, um sie „auf Kurs“ zu bringen.

Der Autor forscht am Europa Zentrum des Freeman Spogli Instituts für Internationale Studien der Stanford Universität und am Orfalea Center für Globale und Internationale Studien der Universität von Kalifornien in Santa Barbara.