von Klaus Hammer
Einzigartig ist die Stellung Marc Chagalls in der Kunst des vergangenen Jahrhunderts. Er gehörte keiner ihrer vielen Richtungen an, obwohl viele für ihn – und er für viele – von Bedeutung waren. Aber er steht auch keineswegs isoliert da. Schon der junge Künstler knüpfte die Fäden zwischen seiner russischen Heimat, der jüdischen Alltagswelt, der östlichen mittelalterlichen Legende und dem Paris der Moderne, der Begegnung mit Fauvismus und Kubismus, Expressionismus und Suprematismus. „Meine Gegenstände habe ich aus Russland mitgebracht. Und Paris hat sein Licht darauf geworfen“, bekannte Chagall rückblickend.
Über ein halbes Jahrhundert wurde sein Werk in der damaligen Sowjetunion der Öffentlichkeit vorenthalten. Was hier aus der Zeit bis zu seiner Emigration 1922 vorhanden war, blieb in den Depots der Museen und in Privatsammlungen verborgen. 1991 konnte das Frühwerk Chagalls aus den russischen Jahren 1906-1910 und 1914-1922 aus russischen Beständen in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main gezeigt werden. Ihre Ergänzung und Bereicherung erfuhren diese bisher weitgehend nur durch Abbildungen bekannten Arbeiten durch Werke, die während des ersten Paris-Aufenthaltes 1910-1914 entstanden waren, aus westlichen öffentlichen und privaten Sammlungen. Die Hauptwerke namentlich dieser ersten Pariser Zeit, die zu den Spitzenwerken renommierter Museen zählen und kaum ausgeliehen werden, konnten allerdings selbst aus dem unweit gelegenen Düsseldorf, Köln oder Basel den Weg nach Frankfurt nicht antreten. Die Ausstellung „Marc Chagall. Meisterwerke 1908-1922“, die dann das BA-CA Kunstforum Wien 2006/2007 zeigte, ging noch einen gehörigen Schritt weiter. Sie vereinte die gesamten Bestände der Moskauer Tretjakow-Galerie mit denen des Russischen Museums in St. Petersburg und konnte zudem Leihgaben aus zahlreichen russischen Nationalmuseen, aus Paris, Hannover, Basel, Zürich und New York zeigen. Seitdem – und auch schon vorher – hat es Ausstellungen zu speziellen Themen im Werk Chagalls in New York, London, Paris, Madrid, Moskau, Jerusalem, Saarbrücken, Frankfurt a.M. und anderen gegeben.
Wenn jetzt das Kunsthaus Zürich in Kooperation mit der Tate Liverpool Chagall als Meister der Moderne würdigt, dann bilden die Jahre 1911 bis 1914, die Chagall in Paris verbrachte, und die anschließenden Jahre bis 1922, in denen er wieder in Russland lebte, den Schwerpunkt der Ausstellung. Untersucht werden soll, wie intensiv sich der Künstler in dieser Zeit mit den Strömungen der Avantgarde seiner Zeit beschäftigte. Dabei ist es gelungen, neben berühmten Bildern auch weitgehend unbekannte Arbeiten heranzuschaffen. Höhepunkt ist zweifellos der Zyklus von Malereien, den Chagall 1920 für das Jüdische Kammertheater in Moskau schuf. Jahrzehntelang haben sich die großformatigen Leinwände in den Magazinen der Tretjakow-Galerie befunden, und nur ein einziges Mal wurden sie ausgerollt, als Chagall sie 1973 bei einem Besuch in Moskau wiedersehen und signieren wollte. Sie sind dann später aufwändig restauriert und damit vor dem sicheren Zerfall gerettet worden.
Chagall wurde 1887 im weißrussischen Witebsk geboren, in dieser damals überwiegend jüdischen Stadt mit chassidischer Tradition verbrachte er seine Jugend. Und die Häuser und Gassen, Menschen und Feste, die Natur und Kultur seiner Heimat prägten sich ihm unauslöschlich ein. Vielseitig entwickelte er seine Ausdrucksmittel, um in diese Welt einzutauchen und seismographisch genau dessen Erschütterungen abzubilden und sofort in Bedeutung zu übertragen. Auch während seines ersten Pariser Aufenthaltes blieb er seinen russischen Themen treu. Das erklärt seinen Ausspruch: „Paris – mein zweites Witebsk“. 1914 zu einem kurzen Besuch in die Heimat zurückgekehrt, wurde er vom Ersten Weltkrieg überrascht und konnte acht Jahre lang nicht aus Russland ausreisen. Der Revolution diente er als Kunst-Kommissar und Akademie-Rektor in Witebsk, kam aber mit den von ihm berufenen Suprematisten Malewitsch und Lissitzky nicht zurecht und siedelte nach Moskau über.
Ein unablässiger Strom spontaner Bilderfindungen kennzeichnet diese russischen Jahre. Schon 1908 malte Chagall den „Toten Mann“: Die Schläfrigkeit des Dorfes wird durchdrungen vom Schrei einer Frau, deren Mann tot auf der Straße liegt. Dem „Trinker“ (1911) entschwebt der Kopf, um der Flasche näher zu sein; im „Selbstbildnis“ (1911) vermehren sich die Finger an der linken Hand zur Glückszahl Sieben, und dem Selbstporträt von 1918 ist der Kopf umgekehrt aufgesetzt. Alle Gesetze der Vernunft und Logik werden außer Kraft gesetzt. „Der Jude in Rot“ (1915) zeigt einen Bettler als Rabbi, umgeben von hebräischen Texten aus der Genesis. „Ich und das Dorf“ (1911) konfrontiert das grüne Gesicht Chagalls mit einer Kuh, der Allesernährerin des Dorfes; um sie herum ist Nahes und Fernes, Großes und Kleines in an- und abschwellenden Farbtönen auf den Kopf gestellt. In scheinbarer Schwerelosigkeit erheben sich die Gestalten in die Lüfte, die Kälber, Hähne und Ziegen, die rudernden Fische. „Über Witebsk“ (1922) und seinen menschenleeren Straßen schwebt der Jude auf ewiger Wanderschaft. Der Geiger begleitet die menschliche Szene des Dorfes mit seinen Froh- und Klageliedern von der Geburt bis zum Tod. Er wird zur Schicksalsfigur, die Töne seiner Geige verkünden, was die Stunde geschlagen hat. Den intimen Porträts der Schwester, des Vaters, des Bruders entgegengesetzt sind die Tusche-, Pinsel- und Federzeichnungen über die Heimatstadt in der Kriegszeit mit obdachlosen, flüchtenden Menschen und verwundeten Soldaten.
Bella, die er 1915 geheiratet hat, wurde ihm zur Gefährtin und Schutzgöttin zugleich. Die Bilder gelebten Glücks („Doppelporträt mit Weinglas“, 1922) steigern sich bis zu den phantastischen „Spaziergängen“ in den Lüften. Bei den „Liebenden“ in Schwarz, Grün, Blau und Rosa wird jeweils die Farbe zum Sinnvermittler des Dargestellten. Dann wieder, in Stunden großer Traurigkeit, lässt „Die Uhr“ (1914) die Zeit mit schauerlichem Tick-Tack untätig verrinnen und zerrinnen. Chagalls Bilder sprühen mitunter in einer Explosion von Regenbogenfarben, während die kubisch facettierten Raumschichten dem Künstler als Schichten der Erinnerung galten, die sich überlagern und verschränken. „Gemalte Zuordnungen von inneren Bildern, die mich besitzen“, hat er sie genannt. Seine Radierungen zu Gogols Romansatire „Die toten Seelen“ (1923-1925) reicherte er dann malerisch mit Halbdunkel an und gewann so Freiheiten, die wieder auf seine Malerei zurückwirken sollten.
Die Krönung der Schau bilden die transparenten Wanddekorationen für das Moskauer Jüdische Theater, gleichermaßen bedeutend für die Kunst- wie Theatergeschichte: die riesige Komposition „Einführung in das Jüdische Theater“, auf der sich aus dynamisch geometrischen Flächen ein wirbelnder Chor von Musikern, Schauspielern, Akrobaten und Jongleuren entfaltet, die Allegorien „Das Drama“, „Die Musik“, „Der Tanz“ und „Die Literatur“, der Fries „Das Hochzeitsmahl“ und das fast quadratische Panneau „Die Liebe auf der Bühne“. Diese sich in rhythmischer, wie getanzter Bewegung und chromatischen Akkorden ergießende Theatersuite vereint erfundene wie reale Gestalten, Realität, Folklore und Mythos, humoristische Anspielungen, sarkastische Kommentare und symbolische Bedeutungen, pragmatische Unterweisungen und auch kühne Zukunftsentwürfe, wie sie Chagall für ein neues jüdisches Theater als notwendig ansah.
Chagall – Meister der Moderne, Kunsthaus Zürich 8. Februar – 12. Mai 2013; Tate Liverpool 7. Juni – 6. Oktober 2013, Katalog 39,80 Euro
Schlagwörter: Klaus Hammer, Kunsthaus Zürich, Marc Chagall