von Ulrike Steglich
Es gibt Momente, etwa beim morgendlichen Zeitungslesen oder auch bei Christiansen, da denkt man schon mal ernsthaft übers Auswandern nach. Ob Schröder tatsächlich schon begriffen hat, welchen Job er da eigentlich übernommen hat, weiß man nicht recht. Wenn er es hätte, wäre er jedenfalls nicht zu beneiden. Ebensowenig wie die rot-rote Regierung in Berlin.
Beide haben mit Dinosauriern zu kämpfen. Schröder müßte ein Land reformieren, das irgendwie Anfang der achtziger Jahren steckengeblieben ist und in dem es aus allen Ecken und Enden heftig stinkt: Gesundheitswesen, Bildungswesen, Arbeitsamt, Steuersystem, Parteienfilz … Die neue Berliner Landesregierung steht vor einem monströsen Schuldenberg, den ihr die Große Koalition hinterlassen hat, sowie der Aufgabe, den Haushalt zu konsolidieren und den aufgeblähten Verwaltungsapparat zu reduzieren, der sich teilweise bloß selbst verwaltet, der aber allein schon jährlich Berlins Einnahmen auffrißt.
In der Tat wäre in Berlin durchaus eine Menge aufzuräumen. Aber sparen ist nicht so einfach in einer einst reich subventionierten Stadt, in der jeder auf sein Privileg aus seligen Mauerzeiten pocht. Kaum sollen die Westberliner Beamten eine halbe Stunde länger pro Woche – also sechs Minuten mehr pro Tag – arbeiten, wie in anderen Bundesländern üblich, gibt es einen Aufschrei der Geknechteten: Wir sind doch nicht schuld an der Misere! Sogar für komplett überflüssigen Schnickschnack wie die Reiterstaffel, die sich eine marode Stadt nun wirklich nicht leisten muß, finden sich noch ein paar Wilmersdorfer Witwen und tierliebe Teenager (sowie natürlich die berittenen Polizisten selbst), die gegen die Streichung demonstrieren.
So geht das – auch auf Bundesebene. Allüberall schreien die Lobbyisten, sobald es an die eigenen Pfründe geht. Die dringend überfällige Gesundheitsreform scheitert an der gegenseitigen Blockade von Pharmaindustrie, Kassenverbänden und Ärzteschaft. Dieses Land ist gepflastert mit mehr oder minder mächtigen Apparaten: mit Gewerkschaften und öffentlichem Dienst, Kammern, Innungen, Verbänden. Es ist schon höchst unappetitlich anzusehen, mit welch arroganter Verve die ver.di in Berlin sich jeglicher Kooperation verweigert: in einer Stadt, in der es von Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen nur so wimmelt – die die ver.di selbstverständlich einen Dreck scheren.
Interessenvertretungen sind gewiß legitim. Das Problem besteht darin, daß auch noch so viele von ihnen nicht automatisch ein Gemeinwesen ergeben. Das Wort Gemeinwesen scheint hierzulande ein Fremdwort zu sein. Beispiel Steuern. Steuern, so würde man das einem Kind erklären, sind gedacht als Investitionen ins Gemeinwesen, unter anderem für die öffentliche Infrastruktur in dem Land, in dem wir zusammenleben. Wer mehr besitzt, bringt mehr ein, wer weniger aufbringen kann, weniger.
Freilich hat diese Erklärung mit dem deutschen Steuerwesen nicht mehr viel zu tun. Es ist unendlich kompliziert, mit zahlreichen Schlupflöchern versehen, und damit ungerecht. Denn die Schlupflöcher kann vor allem derjenige für sich nutzen, der sich einen hochkarätigen, im Paragraphendschungel sicheren Steuerberater leisten kann. Durch diese ungerechte Exklusivität ist Steuerbescheißen zum Volkssport geworden, Bücher über Steuerspartricks wurden Bestseller. Ein gerechtes Steuersystem wäre ein radikal vereinfachtes Steuersystem. Dazu hat sich bislang niemand durchringen können.
Statt dessen zieht immer mal jemand vors Bundesverfassungsgericht, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt, und dann wird das Steuersystem um noch eine Regelung komplizierter. Von Gemeinwesen: keine Rede, kein Gedanke.
Dieses Land bleibt reformresistent, solange es keine gesellschaftliche Verständigung, keinen großen öffentlichen Streit über gesellschaftliche Prioritäten gibt. Gemeinsame, wohlgemerkt. Aber wie sollte es eine solche Debatte geben, da die Bundesrepublik im saturierten Geist der Siebziger steckengeblieben scheint: Der Bürger als individualistischer Konsument zu Zeiten der Vollbeschäftigung (jedenfalls der Männer). Die Ego-Mechanismen funktionieren wie geschmiert. Sollen in Berlin die Zuwendungen an Privatschulen um sieben Prozent gekürzt werden, ziehen Schüler, Eltern und Lehrer auf die Straße. Freilich nur für sich – der Zustand der öffentlichen Schulen mit weit mehr Schülern interessiert sie nicht. Kaum bringt der Spiegel einen Artikel über die hierzulande schwierige Situation von Familien mit Kindern, hagelt es prompt Leserbriefe empörter Singles: Schließlich hätten sich die Eltern doch freiwillig für die Blagen entschieden, und man sehe gar nicht ein, daß man nun selbst und so weiter und so fort.
Kein Wunder, daß das so ist. Für etliche Kinder im Westen war die Grundschulklasse ihr erstes kleines Gemeinwesen überhaupt, weil es zu wenig Kindergartenplätze gab. Aber die Grundschule währt fast überall nur vier Jahre: Schon zehnjährige Grundschüler lernen, daß es in erster Linie darum geht, den eigenen Hintern rechtzeitig zu sichern, statt sich um die Klassengemeinschaft zu kümmern. Nämlich dann, wenn ihre Eltern um den Gymnasienplatz ab der fünften Klasse raufen. Denn Hauptschüler werden schon für doof erklärt und sozial abgeschrieben, auch wenn sie erst zehn Jahre alt sind.
Eine Zeitlang sah es wahrhaftig so aus, als wäre das PISA-Ergebnis wirklich ein nachhaltiger Schock und Anstoß zu ernsthafter Debatte gewesen. Aber dann kam die SPD-Spendenaffäre, und das dürfte wohl der Todesstoß für die Bildungsdiskussion gewesen sein. Denn auch die Medien denken erstmal an ihren (Quoten)Bauch. Die notwendige öffentliche Grundsatzdiskussion über Prioritäten kann aber nicht stattfinden, wenn jede Woche hektisch neue Säue durchs Dorf getrieben werden: CDU-Spenden, BSE, (zwischendurch planscht Scharping), PISA-Studie, Arbeitsamt, SPD-Spenden.
Dann sieht man den Politikerreigen bei Frau Christiansen am Tisch sitzen und nicht etwa die entstandenen Schäden fürs Gemeinwesen, sondern penibel ihre Parteikontrollgremienstrukturen bereden. Und dann, wie gesagt, denkt man leise ans Auswandern. Es ist auch die Wut einer neuen Generation über die selbstgefällige Ignoranz der älteren West-Politiker-Garde.
Denn wer hat schon Lust, in einem Land zu leben, das – nun auch nachgewiesen und belegt – vergreist und verblödet, das offenbar reformresistent ist und riesige Verwaltungsapparate unterhält, die sich vor allem selbst verwalten sowie Bürger mit endwie sinnlosen Papierchen auf Trab halten. Diesem Ego-Land mit Schmerbauch fällt nicht nur die Rezession auf die Füße, sondern vor allem seine selbstgerechte Trägheit und sein Egoismus. Sollen sich doch die New-Economy-Singles in vierzig Jahren darüber beschweren, daß niemand ihnen fachgerecht die wundgelegenen Ärsche behandelt. Wir sind dann vermutlich schon längst in Finnland – da spüren Kinder wenigstens von kleinauf, daß sie wichtig und geachtet sind.
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