von Jörn Schütrumpf
»Wo sind die Soldaten? Die Drahtverhaue? Die Handgranaten? Im Vorübergleiten siehst du einen einzigen Mann vor dem Wachthaus stehen: dunkel, lang. Unendlich lang in dem bis an die Absätze reichenden Soldatenmantel. Den dreifachen Drahtverhauen der Polen gegenüber steht an der Grenze bei Negoreloje – ein langer Rotarmist. Einer! Allein. Doch tausend Kilometer ostwärts, bis nach Japan, – gibt es keine Grenze mehr, erstreckt sich die Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken.«
1926, als der junge F.C. Weiskopf erstmals in die Sowjetunion reiste, hatte die Revolution noch nicht alle Unschuld verloren, sah sich das Polen der Pans gehalten, seine Grenzen gegen den kommunistischen Virus zu schützen. Umsteigen ins 21. Jahrhundert.
In seinem sechs Jahre später verfaßten Reisebericht über die zweite Sowjetunion-Reise Zukunft im Rohbau sucht man dergleichen Nachricht vergebens. Die Kollektivierung mit der Aushungerung zehntausender ukrainischer Bauern hatte den Wandel in einen terroristischen Polizeistaat erheblich vorangebracht. Der Drahtverhau – an der Staatsgrenze ebenso wie am Lagerzaun – war zum unabdingbaren Requisit Stalinscher Herrschaft geworden.
Ab Ende der vierziger Jahre stand er auch in Ostblockstaaten; die DDR erreichte er am 27. Mai 1952. Die vom Westen herbeigeführte Spaltung Deutschlands und den EVG-Vertrag beantwortete die sowjetische Besatzungsmacht mit der Schließung der innerdeutschen Grenze und der Zwangsumsiedlung vermeintlicher wie wirklicher politischer Gegner aus den Grenzgebieten. Stalin signalisierte damit seinen Entschluß, die DDR nun dauerhaft, mit allen Konsequenzen und ohne alle Rücksichten in den sowjetischen Herrschaftsbereich einzuordnen.
Ein halbes Jahr darauf begannen die Vorbereitungen für die Abriegelung Westberlins. Das Szenario war dasselbe wie neun Jahre später; eröffnet wurde die Aktion Ende Dezember 1952 mit einer Registrierung der Grenzgänger. Stalins Tod am 5.März 1953 machte dem Spuk ein Ende. Lawrenti Beria setzte auf Entspannung; der ihn entmachtende Nikita Chruschtschow in den ersten Jahren ebenfalls.
Um so mehr überraschte er am 28. November 1958 die Welt mit seinem Vorschlag, innerhalb eines halben Jahres Westberlin in eine »Freie Stadt« ohne Besatzungsmächte umzuwandeln. Es war ein kaum verhülltes Ultimatum, das nicht nur den Westen unvorbereitet traf – das sollte es –, sondern auch im sowjetischen Außenministerium tiefe Verwirrung auslöste. Dort arbeitete man nämlich seit Sommer 1958 auf Chruschtschows Anweisung an einer ganz anderen Variante für Westberlin, an der Entspannungsvariante. Der Deutschlandsexperte Wjatscheslaw Daschitschew hat sich darüber jüngst in Berlin ausführlich geäußert.
Nikita Chruschtschow befand sich nach seiner Enthüllungsrede vom 24. Februar 1956 auf dem XX. Parteitag innerhalb der KPdSU in einer schwierigen Lage. Wenngleich Molotow, Malenkow und Kaganowitsch im Juni 1957 mit einem Putsch scheiterten, standen sie doch nicht allein. Vor allem in der Wirtschaft hatten die innenpolitischen Reformen nicht die erwarteten Erfolge gebracht. Um endgültig aus Stalins Schatten herauszutreten, setzte Chruschtschow nun auf die Außenpolitik.
Neben dem erfolgreichen Widerstand der jugoslawischen Kommunisten markierte Westberlin die tiefste Niederlage der Stalinschen Nachkriegspolitik. Die Sowjetunion hatte im Sommer 1948 die einseitige – von den USA organisierte – Währungsreform und damit die Spaltung Deutschlands mit einer Unterbrechung des Wirtschaftsverkehrs zwischen den deutschen Westzonen und den Berliner Westsektoren beantwortet und so wider Willen das Herausbrechen Westberlins aus seinem Umland beschleunigt. Im Jessup-Malik-Abkommen vom Mai 1949 mußte Stalin den in Berlin neuentstandenen Status quo bestätigen.
Diese Scharte wollte Nikita Chruschtschow auswetzen. Die Bedingungen waren nicht ungünstig: Bei den Atomwaffen herrschte mit den USA annähernd Parität; der Start des Sputniks im Oktober 1957 hatte die Periode der US-amerikanischen Unverwundbarkeit beendet. Die DDR schien so stabil wie nie zuvor. Chruschtschow entschloß sich, mit einer Politik der Stärke die Westmächte aus Berlin herauszudrängen.
Doch die DDR verhinderte seinen so dringend benötigten Erfolg, denn das Land rutschte ab 1959 immer spürbarer in eine Wirtschaftskrise. Mehreres kam zusammen: Nach dem Poznan er Aufstand von 1956 hatte sich die Führung unter Wladyslaw Gomulka entschlossen, die schlesische Steinkohle auf dem Weltmarkt zu vertreiben, und damit die Energiepolitik der DDR torpediert; die äußerst kostspielige Umstellung der DDR-Wirtschaft auf Braunkohle war die Folge. Hinzu kam die endgültige Absage Polens, Stettin als gemeinsamen Überseehafen zu nutzen; schweren Herzens wurde 1957 der Ausbau Rostocks und damit eine Nord-Süd-Ausrichtung des DDR-Wirtschaftsverkehrs beschlossen. Außerdem legte die DDR, dem internationalen Trend folgend, 1958 ein umfangreiches Chemieprogramm auf, in dessen Zentrum die Ölverarbeitung stand. Zusätzlich verschärft wurde die Situation durch den Zustand der Maschinenparks in den meisten Betrieben; nach den Demontagen waren abgeschriebene Geräte hervorgeholt worden, die in den dreißiger Jahren für den Fall von Produktionssteigerungen eingelagert worden waren. Diese Technik war am Ende der fünfziger Jahre auch physisch verschlissen und mußte nun ausgetauscht werden.
Als wäre dies alles nicht genug an wirtschaftlichen Belastungen, wurde im Frühjahr 1960 dann auch noch die LPG-Bildung im Parforceritt zu Ende geführt; die ohnehin entstehenden Produktionsverluste wurden durch das schlechte Wetter 1960 und 1961 noch erheblich vergrößert – am 31. Mai 1961 mußte, außer in Berlin und im Bezirk Halle, die Fleisch- und Butterrationierung wieder eingeführt werden.
Zum Verteilen war in diesen Jahren nicht viel übrig. Deshalb stieg ab Ende 1959 die Abwanderung – besonders von jungen, gut ausgebildeten Arbeitskräften – in den wirtschaftlich prosperierenden Westen wieder an. Statt die Westmächte aus Westberlin zu verdrängen, sah sich Nikita Chruschtschow gezwungen, die DDR-Bevölkerung von Westberlin abzudrängen. An seiner Forderung nach einer »Freien Stadt Westberlin« hielt er nach außen hin noch einige Monate fest. Den nächsten Konflikt suchte er dann in Kuba – mit der Stationierung von Atomwaffen.
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