Des Blättchens 3. Jahrgang (III), Berlin, 18. September 2000, Heft 19

Erdbeeren mit Senf

von Ulrike Steglich

Reise in ein unbekanntes Land«, titelte der Spiegel. Dazu sieht man einen Mann mit Tropenhelm und Fahne, der mit weiteren Pionieren über eine Landkarte stapft. Der Kanzler entdeckt die fünf neuen Bundesländer, vulgo: den Osten.
Frisch erholt nach seinem Urlaub im siebzehnten Bundesland Mallorca kam er zurück in ein Deutschland, das soeben ein brandneues Problem entdeckt hatte: den Rechtsextremismus. Besonders im Osten. Der Kanzler brach auf, um vierzehn Tage lang durch eine seiner Chefsachen zu touren.
Es war eine Ochsentour. In Bad Frankenhausen traf Schröder die Fliederkönigin, in Bad Elster die Brunnenkönigin. In Naumburg eine Schauspielerin in der Rolle der Uta. In Wittenberge probierte der Kanzler Erdbeeren mit Senf und Kartoffeln mit Orangensauce, bei Rheinsberg traf er ostdeutsche Leistungssportler und landete auf einen Absacker in einem Hafendorf. Ganz im Vorbeigehen rehabilitierte er die DDR-Kunst, indem er Werner Tübkes Panoramaschinken Kyffhäuserscher Dimension (im Osten gelegentlich Elefantenklo genannt) bei Bad Frankenhausen lobte. Anderswo mahnte Schröder, man dürfe sich die hervorragenden Aufbauleistungen Ost nicht durch Rechtsextremisten kaputtmachen lassen.
Nun gehen freilich durch den Rechtsextremismus weniger die Aufbauleistungen Ost oder allgemein das Image und somit die deutsche Wirtschaft kaputt – was offenbar die Hauptsorge der auf Globalisierungskurs befindlichen deutschen Gesellschaft ist –, sondern in erster Linie Ausländer – oder auch nur ausländisch Aussehende. Blicken lassen hat sich Schröder offenbar bei keinem von ihnen, jedenfalls keinem Lebenden: weil Asylbewerber sowieso nicht wählen dürfen?
Seien wir nicht kleinlich: Immerhin hat Schröder in Dessau »spontan« – also unter der Anwesenheit etlicher Pressevertreter – Blumen an der Stele für den ermordeten Alberto Adriano niedergelegt. Einen Besuch bei dessen Witwe samt drei Kindern sah das Protokoll nicht vor, Kanzlerzeit ist knapp. Sie reichte aber immerhin für den Satz, man müsse »schlimme Ereignisse, wie den Mord an einem ausländischen Mitbürger, zusammen bekämpfen«. Es wird Schröders Geheimnis bleiben, wie man einen bereits begangenen Mord bekämpfen kann.
In Horno gab Schröder ein flottes Votum ab: Das Lausitzdorf soll bekanntlich abgebaggert werden. Die Hornoer wehren sich dagegen, die Kalikumpel vom Tagebau Jänschwalde halten derweil eine Mahnwache – dürfen sie nicht baggern, gehen ihre Arbeitsplätze bei der Lausitzer Braunkohle AG (Laubag) flöten. Für einige Tausend geht es um ihre Arbeitsplätze, für einige Hundert um ihr Zuhause. Der Kanzler sprach ein diagnostisches Kanzlerwort: »Wenn die Laubag hier hustet, besteht die Gefahr, daß die ganze Lausitz erkrankt.« Die Hornoer quittierten es mit Schweigen. Der Kanzler schoß bei Energie Cottbus zwei Elfmeter. Das Tor traf er beide Male nicht.
Erbsenzählerei, meinetwegen. Vielleicht gibt es aber nicht mehr zu zählen als Erbsen. Und vielleicht nervt es, von manchen Medien ständig die Erbsen als Kaviar verkauft zu bekommen. »Gerhard Schröder öffnet den Ostdeutschen die Türen, und die freuen sich«, schrieb der Berliner Tagesspiegel. Freilich, der Osten ist einfach zu belustigen, zur Not taten es ja auch schon Bananen. Und: »Gewiß ist Schröder mit den Bekenntnissen zu fortgesetzter Solidarität der Neigung vieler ostdeutscher Bürger entgegengekommen, vorrangig auf die Hilfe von oben zu setzen.« Hatten wir nicht neulich erst den Stadtentwicklungssenator bitter über Westberliner Subventionsmentalitäten klagen hören …
Es geht um die offenbar sehr unterschiedlichen Lesarten dieser Reise. Von »Erwartungen« muß man ja gar nicht erst reden: Zu oft ist uns in dieser postmodernen Addition von Politik und Medien zur Show verklickert worden, ein Kanzler habe nur zu repräsentieren, da dürfe man nicht allzuviel Konkretes erwarten. Fürs Repräsentieren ist zwar in diesem Land eigentlich der Bundespräsident zuständig, aber sei’s drum.
Darf man aber trotzdem von Repräsentanten, auch dem Kanzler, erwarten, daß sie ihren Appellen an die Zivilcourage – die aufrechtzuerhalten gar nicht so einfach ist, wenn man einer Gruppe von Glatzen begegnet – wenigstens repräsentierende Präsenz vorangehen oder mindestens folgen lassen? Hat sich auch nur ein deutscher Politiker in Mölln oder Solingen oder Eberswalde nach den Morden blicken lassen, fragte zu Recht die französische Korrespondentin Pascale Hugues im Tagesspiegel. Die, die über den Schaden für den Standort Deutschland jammern, sollten diesen Artikel sehr genau lesen – denn im Ausland wird registriert, wie die hiesige Politik dem Rechtsextremismus Vorschub geleistet hat und – durch Abwesenheit – noch leistet. Wie anders waren Kampagnen wie »Das Boot ist voll« oder »Kinder statt Inder« denn auch zu verstehen?
Und sollen wir wirklich noch einmal über »den Osten« reden, der für den Tagesspiegel offenbar ein ebenso unbekanntes Land ist wie für den Kanzler? Zwei Jahre hat Schröder gebraucht, um diese Reise anzutreten – eine repräsentierende Geste. Zehn Jahre nach der vielgepriesenen Vereinigung. Eine Geste, die man auch so lesen kann: Wenn Rechtsextremisten nur ordentlich draufhauen – dann kommt auch mal der Kanzler gucken. Worauf die Stichworte der letzten zehn Jahre »Nazis« und »Osten« wieder auf das Reflexhafteste verknüpft wären. Und das, als sich in diversen Medien gerade langsam die Erkenntnis breitmachte, daß der Rechtsextremismus nicht nur eine ost-, sondern eine gesamtdeutsche Erscheinung ist. Denn die altdeutschen Ressentiments oder die neudeutschen, meist männlichen Modernisierungsverlierer, die gibt es im Westen auch – es trifft letztere nur mit einiger Zeitverzögerung.
Kanzler Schröder hätte sich angesichts der Landschaften Ost fragen können, welche Leerstellen links und rechts von der von ihm propagierten »Neuen Mitte« aufgerissen werden. Er hat sich statt dessen als Mutmacher und jovialer Kohl-Ersatz verstanden. Ein bißchen mahnen, ein bißchen »Das wird schon noch«, und dann schnell wieder weg.
Die Laubag hustet. Der Kanzler ißt Erdbeeren mit Senf. Und wir, wir zählen weiter die Erbsen. Und die Anschläge. Was uns fehlt, ist bloß ein bißchen Zivilcourage. Dann wird das schon.