von Achim Engelberg
Die Lücke, die Heiner Müllers Tod vor zehn Jahren riß, klafft immer noch als Wunde. Alles, was seitdem auf die Bühne kam, war zwar manches Mal brillant, aber nie wirklich groß. Groß meint: verstörend, noch nie so gesehen, exemplarisch. Was machte Müller groß?
Kurz vor dem zehnten Todestag am 30. Dezember 2005 liegen erstmalig die Stücke und die Gedichte, die Prosa und die Schriften vollständig vor. Dazu gibt’s den teuren Fotoband Der Tod ist ein Irrtum, der seine letzte Ehe mit der Fotografin Brigitte Maria Mayer dokumentiert und mythologisieren will. Die Geschichte von Heiner Müller und Brigitte Maria Mayer ist die der Liebe eines älteren Mannes und einer jungen Frau, aus der die Tochter Anna entsprang, die schon mit drei Jahren ihren Vater durch einen grausamen Krebstod verlor. Das ist traurig, aber nicht exzeptionell im Leben. Es war keine Liebesbeziehung wie die zwischen Bertolt Brecht und Helene Weigel, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, bei denen es noch eine »dritte Sache« gab. Müllers Werk und Ästhetik sind ganz ohne seine letzte Ehefrau da – da war Inge Müller einflußreicher, aber auch hier weist die Beziehung nicht auf ein neues Verhältnis der Geschlechter hin. Es gibt auch kein Geheimnis, keine die Phantasie anregende Geschichte wie etwa bei Arthur Miller und Marilyn Monroe.
Obwohl einige Kritiker versuchten, dieses Buch zu überhöhen, stellten sich die Buchhändler zumeist die mit Texten aus dem Nachlaß erweiterte Autobiographie Krieg ohne Schlacht – Leben in zwei Diktaturen in die Regale. Haben wir es hier mit einer originären Konfession zu tun? Zunächst fällt der Titel auf: Der zweite Teil ist pure Konfektion, der erste großartig, da geheimnisumwittert, eine vielsagende Metapher für die Zeit des Kalten Krieges, die Müllers Hauptschaffensperiode war. Allein – der Titel stammt nicht von Heiner Müller, sondern von einem Roman von Ludwig Renn. Klug geklaut, Heiner! Vergleicht man die autobiographische Gesprächssammlung mit Autobiographien wie Die Wörter von Jean-Paul Sartre oder Zeitkurven von Arthur Miller, merkt man sogleich, daß hier nicht Müllers Bedeutung liegen kann. Zu wenig strukturiert, zu wenig Einblicke hinter den Panzer des Selbst und in das Milieu des Intellektuellen Müller.
Nehmen wir nun die Schriften. Wer den siebenhundertseitigen Band beginnt, fühlt sich zuerst enttäuscht, wird er doch mit den Brotarbeiten des jungen Müllers – Rezensionen – konfrontiert; doch das Buch gewinnt allmählich an Fahrt, und man findet zunehmend Essays und Reden, die zum Besten dieser Gattung gehören – ein subjektiver Blick auf die Geschichte und die Kunst. Man erlebt einen Autor quer zu der Mehrzahl seiner Kollegen. Immer wieder fragt man sich, woher er das wußte, wie er das vorausfühlte, warum er sich nicht mitreißen ließ von manchen Gefühlen der Zeit. Bei der Großdemonstration am 4. November 1989 – das war fünf Tage vor der Maueröffnung! – warnte er als einziger Redner vor der heraufziehenden Arbeitslosigkeit und plädierte für unabhängige Gewerkschaften. In einem Text zum Tag der Neuvereinigung am 3. Oktober 1990 blickte er von der Zukunft her auf Deutschland und Europa: »Die Ost-Öffnung brachte zugleich auch eine – von rechts gesehen – Überfremdung Deutschlands durch Arbeitsemigranten aus dem Osten mit sich. Es gab dagegen zwar immer mehr drakonische Gesetze, doch zu stoppen war dieser Prozeß nicht. Mit dem Ergebnis, daß kein einheitliches Volk entstand, sondern ein Konglomerat aus Volksstämmen, Volksteilen und Minderheiten.« Weiterhin sah er die heraufziehende Auseinandersetzung mit dem Islam voraus und, daß die Armen nicht ewig im Süden bleiben werden: »Die ehemaligen Kolonien rächten sich an den Metropolen, indem sie sie zu zersetzen begannen. Es entstanden Collagen mit Konflikten zwischen den einzelnen Teilen.« Die Zukunft des Sozialismus sah er damals in fünfzig Jahren kommen – im Jahre 2040. Das gescheiterte Experiment ließ ihn nach 1989 nicht zu einem Spätheimkehrer des kalten Krieges werden, sondern zu einem sphinxhaft-einprägsamen Intellektuellen gegen die zunehmende Ökonomisierung des Lebens.
Groß macht Heiner Müller sein scharf sezierender Blick; sein fragmentarischer Stil, der die Phantasie der Leser fordert; Stücke, die keine privaten Geschichten erzählen, sondern Weltdramen. Philoktet bleibt ein Meisterwerk der Antikerezeption, dagegen wirken heute Sartres Fliegen veraltet. Obwohl Bertolt Brecht als weltliterarische Gestalt größere Schatten wirft, ist bei der Durchdringung des blutigsten Jahrhunderts der Menschheitsgeschichte Heiner Müller ohnegleichen. Der Auftrag ist die gültige dramatische Reflexion der Revolutionserfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts. »Wenn die Lebenden nicht mehr kämpfen können, werden die Toten kämpfen. … Der Aufstand der Toten wird der Krieg der Landschaften sein, unsre Waffen die Wälder, die Berge, die Meere, die Wüsten der Welt.« Diese Metapher weist weit über Brecht hinaus in unsere Zeit, wo wahrscheinlich nicht ein Proletariat, sondern der Krieg der Landschaften – der Klimawandel, das Ende der fossilen Brennstoffe – das Ende des Kapitalismus als Weltende oder Neuanfang erzwingen werden.
In seinen Geschichtsdramen, in seinen besten Essays wie dem Faulkneressay Beschreibung einer Lektüre, in Gedichten wie Mommsens Block entsteht ein Müllerland einer extremen Zeit. Es enthüllt den Autor in wiederkehrenden Szenen und Bildern der Gewalt, des Sex’, der Rebellion als einen Goya in Worten. Diese Capriccios bilden eine imaginäre Welt, mit der er die reale Welt in Frage stellt. Dieses Müllerland lebt und atmet, weil es aufstört. Wer es betritt, weiß mehr von dieser Welt.
Heiner Müller: Schriften, Werke 8, 718 Seiten; Heiner Müller: Eine Autobiographie, Werke 9, 522 Seiten, je 27,80 Euro; Brigitte Maria Mayer: Heiner Müller. Der Tod ist ein Irrtum, 164 Seiten, 58 Euro, alle Bücher Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005
Schlagwörter: Achim Engelberg, Heiner Müller