Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 19. Dezember 2005, Heft 26

»Bruder Hitler«

von Fritz Klein

Ein »gestandener Antisemit«, in »bedrängender Nähe« zur nationalsozialistischen Bewegung, sei Thomas Mann gewesen, schreibt Viola Roggenkamp (siehe die Dokumentation in Blättchen, 25/2005). Nur die Einheirat in die jüdische Familie Pringsheim habe ihn davor bewahrt, ein in Nazi-Deutschland gefeierter deutscher Dichter zu werden. Hätte also Mann nicht die von ihm gelegentlich zärtlich als »Judenmädchen« bezeichnete Katja geheiratet (ein merkwürdiger Akt für einen gestandenen Antisemiten), wäre aus ihm nicht ein Hitlergegner, sondern ein Hitlerfreund geworden, unterstellt Viola Roggenkamp. Auf der abstrusen Annahme, daß alles ganz anders gekommen wäre, wenn es nicht so gewesen wäre, wie es war, die ebenso richtig ist wie leer und unbrauchbar für jede ernsthafte Darstellung, baut die Autorin dann ihr Bild vom Antisemiten und nazinahen Thomas Mann auf. Souverän ignoriert sie die Ergebnisse der Forschung, die seit langem den schon früher wiederholt erhobenen Vorwurf des Antisemitismus widerlegt hat, zuletzt die eindrucksvolle, überaus differenziert analysierende, von tiefem Verständnis für einen schwierigen Lebensweg getragene Biographie des Mainzer Mann-Forschers Hermann Kurzke, der ich auch einige wichtige Informationen für das Folgende entnommen habe (Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, Frankfurt am Main 2001).
Nur blindes Vorurteil kann jemanden als Antisemiten hinstellen, der sich 1907 zum »überzeugten und zweifellosen Philosemiten« erklärt, 1930 einen Aufruf gegen den Antisemitismus unterzeichnet, 1935 in einer Jüdischen Zeitung in Prag den Antisemitismus als Schande jedes Gebildeten und kulturell Eingestellten bezeichnet, im September 1942, acht Monate nach der Wannsee-Konferenz, in seiner Deutsche-Hörer-Sendung den »maniakalischen Entschluß zur völligen Ausrottung der europäischen Judenschaft« brandmarkt (wer sprach damals sonst davon?) und 1948 in Amerika einen scharfen Protest gegen den »Verrat an den Juden« veröffentlicht, als es ein Zeitlang so aussieht, als würden die USA die Gründung des Staates Israel hintertreiben.
Zu den unhaltbaren Argumenten Viola Roggenkamps gehört ein denunziatorischer Hinweis auf den »leider viel zu wenig bekannten« Aufsatz Bruder Hitler, den Thomas Mann 1938, nicht 1939, wie sie irrig angibt, schrieb. Kennte man den Text, so soll das wohl verstanden werden, so sähe man den Dichter in seiner wahren Gestalt, als Sympathisant des Führers. Tatsächlich sieht, wer Augen hat zu sehen, das Gegenteil, einen Gegner Hitlers, dessen hassenswerte Verworfenheit ihm außer jeder Frage steht. Was ihn treibt, ist der quälende Wille, seinem Abscheu eindringlich Ausdruck zu verleihen – schonungslos auch gegen sich selbst.
»Schimpfen, mein Freund, kann jeder. Dem Psychologen steht es wahrlich besser an, zu verstehen, zu erklären. Verurteilen zeugt immer von Verständnislosigkeit und psychologischem Nichtvermögen«. Das frühe Diktum (1897 in einem Brief an einen Schulfreund), bekräftigt über die Jahre wiederholt in ähnlichen Äußerungen, belegt die Grundvorstellung Thomas Manns von der wirksamsten Art der Auseinandersetzung. Er wird sie Hitler gegenüber aufgeben in seinen Reden während des Krieges, als jegliches »Verstehen« sich ihm gegenüber dem verbrecherischen Krieg und der Judenvernichtung verbot. 1938 aber klingt die alte Vorstellung noch an. »Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden«. An Haß, schreibt er, lasse er es nicht fehlen und wünsche »diesem öffentlichen Vorkommnis« redlich einen baldigen Untergang in Schanden. Überlegen dem Haß empfinde er aber die Ironie, für ihn das »Heimat-Element aller geistigen Kunst und Produktivität«. Beißend ironisch geht er das »Vorkommnis« an, setzt die Heilsversprechen, den Anspruch auf Völkerbeglückung, den Drang zu Überwältigung, Unterwerfung, den Traum, eine in Angst, Liebe, Bewunderung, Scham vergehende Welt zu seinen Füßen zu sehen, in Beziehung zu der Kläglichkeit des »trübseligen Nichtsnutzes«, des zehnfach Gescheiterten, extrem Faulen, zu keiner Arbeit fähigen Dauer-Asylisten.
Die Unbedingtheit, erklären, verstehen zu wollen, führt Mann auf eine Gratwanderung, auf der es schwerfällt, jedem Schritt fraglos zu folgen. Von Bruderschaft als peinlicher Verwandtschaft, unter Künstlern sozusagen, spricht er und beschreibt all dieses, Dinge wie den hohen Anspruch auf außerordentliche Geltung, den Traum, die Welt zu seinen Füßen zu sehen, in fataler Nähe zu Untiefen und Gefährdungen, die auch ihm nicht fremd seien. Sehr jung habe er in Fiorenza die Herrschaft von Schönheit und Bildung durch den sozial-religiösen Fanatismus Savonarolas über den Haufen werfen lassen, dem Psychologismus der Zeit im Tod in Venedig im Zeichen neuer Vereinfachung der Seele eine Absage erteilt, Kontakt gepflogen mit fragwürdigen Ambitionen der Zeit (gemeint sind die Betrachtungen eines Unpolitischen). Aufrichtiger und produktiver als der Haß sei das »Sich-wieder-Erkennen, die Bereitschaft zur Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten«, auf die Gefahr hin, das Neinsagen zu verlernen. Damit sei ihm nicht bange, fügt er hinzu, eine Versicherung, der vorbehaltlos zuzustimmen ist, denn es blieb beim Nein. Gewiß zuckt zusammen, wer aufgefordert wird, bereit zu sein zur »Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten«. Taktisch wäre es vielleicht klüger gewesen, den Ausdruck zu vermeiden – nicht, weil er heimliche Liebe zum Hassenswerten verrät, wovon keine Rede sein konnte, sondern nur, um den Roggenkamps kein »Argument« für vordergründig einleuchtende Polemik zu liefern. Im Grunde aber ist die Souveränität bewundernswert, mit der Thomas Mann, voll bewußt ihrer gefährlichen Mißverständlichkeit, eine schockierende Forderung aufstellt, recht verstanden doch die Mahnung, das Nein zu Hitler ehrlicher und dadurch überzeugender zu begründen.
Der Bursche, lautet die Botschaft, ist eine Katastrophe, die nicht von oben oder von außen oder aus einem rätselhaften Dunkel über die Deutschen kam. Sie kam aus Eigenem. Wer erklären will, wie und warum es geschah, sollte nicht nur andere hassen, sondern sich selbst betrachten. Von einem »nationalen Gemütsleiden« spricht Thomas Mann, das das deutsche Volk, das mit seiner Niederlage nicht fertig geworden sei, befallen habe, Mutterboden für die schamlose Verführungskraft des Demagogen, der in der Wunde des Volkes rührt, es mit Verheißungen neuer Größe betäubt. Bewegend zu lesen, wie der gestandene Antinazi (Selbstkritik war eigentlich seine Stärke nicht) sich selbst nicht ausnimmt, sich fragt nach eigenem Anteil am Weg in den Schrecken. Nicht wenig Bedenkenswertes enthält der kleine Aufsatz, geschrieben vor fast siebzig Jahren, immer noch hilfreich, will mir scheinen, auch in heutigen Kämpfen.