von Wolfram Adolphi
Im Jahre 1969 präsentierte die DDR-Wochenzeitung horizont ihren Lesern eine Sensation: In ihren Ausgaben 23 bis 38 entrollte sie in Fortsetzungen eine scharfe Kritik an der Politik des chinesischen KP-Führers Mao Zedong in den dreißiger Jahren, gekleidet in einen Bericht mit dem Titel Von Schanghai bis Jänan. Verfaßt hatte den Text ein der Öffentlichkeit gänzlich Unbekannter: Otto Braun. Vier Jahre später, 1973, konnte man mehr erfahren. Im Dietz Verlag erschienen nun Brauns fast 400 Seiten starken Chinesische Aufzeichnungen (1932-1939). Im Epilog gab der im Jahre 1900 geborene Verfasser – der einst als Militärbeauftragter der Komintern zur KP Chinas entsandt worden war, dann als fast einziger Ausländer den legendären »Langen Marsch« mitgemacht hatte und 1939 nach Moskau zurückkehren konnte – den Blick frei auf die Umstände, die es ihm möglich gemacht hatten, jetzt, am Ende seines Lebens (Braun starb 1974), zur Feder zu greifen. Man habe ihm 1939 »nahegelegt«, über seine China-Erlebnisse »Stillschweigen« zu bewahren, und er habe dieses »Schweigegebot« auch »strikt« eingehalten – in der »Hoffnung«, die »marxistisch-internationalistische Linie würde sich in der chinesischen Politik schließlich doch durchsetzen«. Nun aber – das »Schweigegebot« war offensichtlich aufgehoben, wenn man auch nicht erfährt, durch wen und warum – wolle er seine Aufzeichnungen »als Waffe« verstanden wissen: dienend »der Entlarvung der maoistischen Geschichtsfälscher und dem politisch-ideologischen Kampf gegen den Maoismus«.
Von dieser »Waffe« freilich wollte man in der Welt des Jahres 1973 nicht wirklich etwas wissen. Nicht in Washington, wo Präsident Richard Nixon und Außenminister Henry Kissinger gerade begonnen hatten, die lange geschmähte Volksrepublik China und ihren Vorsitzenden Mao Zedong als Partner zu umwerben für eine gemeinsam ins Werk zu setzende Schwächung der Sowjetunion und einen einigermaßen erträglichen Abgang von der Bühne des schmutzigen Vietnamkrieges; nicht in Hamburg, wo ein Studentisches Übersetzerkollektiv im Verlag Arbeiterkampf gerade ein in flammendes Rot-Gold gebundenes, mit einem eindrucksvollen Mao-Frontispiz versehenes Buch mit dem Titel Eins teilt sich in zwei. Originaltexte der chinesischen Kulturrevolution unters Volk brachte, und auch nicht in Moskau, wo die Kritik zwar propagandistisch gut ins Bild paßte, aber die »richtige« Politik längst wieder an Versöhnungsstrategien mit Peking bastelte. Mao war Hoffnung – für Gott weiß wen alles in dieser Welt.
Jetzt aber ist Otto Braun, der in China Li De hieß (was sich gleichermaßen als »Li der Deutsche« oder »Li der Tugendhafte« lesen läßt) und nur durch ein Wunder eines natürlichen Todes sterben konnte, während fast alle sonstigen China-Emissäre der Sowjetunion und der Komintern von Stalin umgebracht wurden, plötzlich doch zu einem Kronzeugen und sein Buch tatsächlich zur »Waffe« geworden. Denn Jung Chang und Jon Halliday geben seinen Zeugnissen in ihrer fast tausend Seiten umfassenden Biographie Mao. Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes entscheidenden Raum. Und in der Tat haben Brauns Schilderungen der wichtigen Zunyi-Konferenz des KPCh-Politbüros vom Januar 1935 eine Schlüsselfunktion für das Verständnis der Rücksichtslosigkeit, mit der Mao Zedong im Kampf um die Macht innerparteiliche Gegner auszuschalten und ihm nicht genehme Gruppierungen hinweg zu »säubern« pflegte: schon damals, in der Bedrängnis des von Tschiang Kai-schek und der Guomindang erzwungenen Rückzugs im Bürgerkrieg, und erst recht später, in der Volksrepublik, bei der Schaffung der Grundstrukturen des neuen Staates 1949, beim Großen Sprung nach vorn 1957, der Kulturrevolution 1966 bis 1969 oder dem erbitterten Ringen um den Verbleib an der Spitze bis zum Tode am 9. September 1976.
Braun ist Kronzeuge, aber er steht mit seinen Beobachtungen und Schlußfolgerungen im Buch von Jung Chang und Jon Halliday natürlich nicht allein. Denn die beiden Autoren haben in vieljähriger gemeinsamer Arbeit tausende Quellen ausgewertet und hunderte Interviews in China und dutzenden weiteren Ländern geführt. 145 Seiten umfassen allein der Anmerkungsapparat und die Bibliographie, es würde schwerfallen, darin eklatante Lücken zu entdecken. In erstaunlicher Fülle sind sie versammelt: die China-Analytiker aus den USA, der Sowjetunion/Rußland, aus Japan, Großbritannien, Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland und der DDR und vielen anderen Ländern, es kommen in großer Zahl im Ausland und in Taiwan lebende Chinesen zu Wort. Und vor allem: Es ist eine enorm große Zahl von neueren Veröffentlichungen aus China selbst ausgewertet worden. Hinzu kommt eine nicht anders als vorbildlich zu nennende Beachtung des seit Anfang der neunziger Jahre in Moskau (durch übrigens – was dort nicht gesagt ist – fruchtbare deutsch-russische Zusammenarbeit) erschlossenen Archivmaterials zum Verhält nis von Komintern und China in den zwanziger und dreißiger Jahren.
Alles in allem fügt sich in 58 Kapiteln ein Bild des Lebens von Mao Zedong, in dem kein wichtiges Ereignis, kein Hauptstrom der chinesischen Geschichte von der Revolution des Jahres 1911 bis zum Ende der Mao-Herrschaft 1976 ausgespart bleibt. Die Gründung der KPCh 1921, die Zusammenarbeit zwischen der KPCh und der Guomindang 1925 bis 1927, die Niederlage der Revolution 1927 und der Bürgerkrieg, der am Ende siegreiche Kampf Chinas gegen die japanische Aggression 1937 bis 1945 und der damit verbundene Aufstieg zum Gründungsmitglied der UNO, der neuerliche Bürgerkrieg 1945 bis 1949, die Gründung der VR China 1949, der Koreakrieg, die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion in den fünfziger Jahren, die Rivalität mit der Sowjetunion um die Führungsrolle in der »kommunistischen Welt«, die Selbstisolierung in den Sechzigern, der Vietnamkrieg, die Suche nach einem Bündnis mit den USA in den Siebzigern – wer immer sich damit künftig beschäftigen will, wird an Jung Changs und Jon Hallidays Arbeit nicht vorbeigehen können.
Wobei ein durchgängig kritischer Blick auf das Werk dringend angeraten ist. So hält die Qualität der Analyse und der Schlußfolgerungen, die die beiden Autoren anbieten, leider mit der Qualität des Sammelns und Zusammentragens in keiner Weise Schritt. Viel zu kurz kommt die Einbettung der chinesischen Ereignisse in die Entwicklungen der Welt, nichts erfährt man über die Gründe von Revolutionen im Land, stark unterbelichtet bleibt das Wesen des chinesisch-sowjetischen Konflikts, sträflich vernachlässigt werden Wesen und Ausmaß der japanischen Aggression, ebenso sträflich heruntergespielt die Anstrengungen der USA zur Beherrschung des asiatisch-pazifischen Raums nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem dramatischen Höhepunkt des Vietnamkrieges, und geradezu lächerlich muten die Passagen an, in denen etwa Nixon und Kissinger als naive, von Mao »Verführte« dargestellt werden.
Allemal fragwürdig bleibt die Grundmethode der Autoren, die Geschichte der chinesischen kommunistischen Bewegung zur Kriminalgeschichte umdeuten zu wollen. Das bringt, wie wir vom Schwarzbuch des Kommunismus wissen, nicht wirklich Aufklärung. Wie auch die eingangs des Buches erhobene – aber nirgends bewiesene – Behauptung, daß Mao siebzig Millionen Tote zu verantworten habe und damit noch vor Hitler und Stalin einzuordnen sei, lediglich der Sensationshascherei dient, nicht aber ernsthafter Gesellschaftsanalyse.
Aber dies alles ändert nichts an den Wahrheiten, die durch das Buch erhärtet werden: daß der Kurs Mao Zedongs und seiner Anhänger das chinesische Volk Millionen an Menschenleben kostete; daß die Idee des Sozialismus mit seiner Politik ebenso wie mit der Stalins unermeßlichen Schaden nahm und daß wir noch immer weit davon entfernt sind, zu begreifen, welchen Bewegungsgesetzen der menschlichen Gesellschaft solche Politik entspringen konnte – und weiter kann.
Jung Chang, Jon Halliday: Mao. Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes. Aus dem Englischen von Ursel Schäfer, Heike Schlatterer, Werner Roller, Karl Blessing Verlag München, 975 Seiten, 34,90 Euro; und auch Otto Braun: Chinesische Aufzeichnungen (1932-1939), Dietz Verlag Berlin 1973, 390 Seiten
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