von Mathias Iven, London
Sollten Sie Musikliebhaber sein und jemals in die Verlegenheit kommen, über zu viel Zeit zu verfügen, und sollten Sie dann noch jemanden kennen, der Ihnen in London für acht Wochen Quartier gewährt, so nutzen Sie diese Zeit unbedingt zum Besuch der PROMS, der Promenadenkonzerte der BBC.
Das »größte Musikfestival der Welt« ist schon etwas ganz Besonderes. Nicht allein, wenn es um die mitwirkenden Solisten, Dirigenten oder Orchester geht. Nein, vor allem die Atmosphäre macht selbst den Besuch nur eines Konzertes zum unvergeßlichen Erlebnis. Und wer kennt sie nicht, die Last Night of the Proms und möchte einmal mit dabei sein? Im sommerlichen Londoner Musikleben ist sie der Höhepunkt eines jeden Jahres.
Trotz der jüngsten Bombenanschläge begann die abgelaufene Saison pünktlich am 15. Juli. In diesem Jahr war die Royal Albert Hall, seit 1941 Gastgeber für die von dem Komponisten und Dirigenten Henry Wood ins Leben gerufene Veranstaltungsreihe, Schauplatz für 74 Konzerte.
Ein wenig Statistik. Die BBC, seit 1927 Organisator, gab in diesem Jahr mehr als vier Millionen Pfund für die Durchführung des Festivals aus. Mehr als 250000 Karten wurden verkauft, die durchschnittliche Auslastung lag bei über achtzig Prozent, mehr als zwanzig Konzerte waren total ausverkauft. Jedes Jahr gibt es zahlreiche Uraufführungen von Werken, die speziell für das Festival in Auftrag gegeben wurden. Wollte man die Anzahl der mitwirkenden Künstler angeben, sie würde in die Tausende gehen.
Als Klangkörper fungieren bei dem größten Teil der Konzerte die verschiedenen Orchester der BBC, seit der Gründung im Jahre 1930 ist dabei das BBC Symphony Orchestra »das« Orchester des Festivals schlechthin.
Die für einen Konzertbesuch berechtigte Frage nach der Qualität des zu Erwartenden steht bei den Aufführungen fast nie, wird doch der hohe Anspruch durch die Auswahl der Solisten und eingeladenen Orchester im vorhinein überzeugend dokumentiert. Eher ist – vor allen für den »Erst«-Promenader – das Durchhalte- oder besser Durchstehvermögen entscheidend. Denn der »wahre« Promenader steht. Es gibt Sitzplätze, natürlich. Aber die Akustik der Halle, die ja nicht ausschließlich für solche Veranstaltungen gebaut wurde, läßt doch etwas zu wünschen übrig. Und so entscheidet man sich, wenn man schon die Wahl hat, doch irgendwann für einen Stehplatz. Und bleibt meistens dabei. Also, der Promenader steht gemeinsam mit hunderten von Musikbegeisterten in der – in der Mitte der Halle befindlichen – sogenannten Arena. Tag um Tag, Woche um Woche. Der hier Schreibende hat es immerhin auf 35 Konzerte, inklusive Last Night!, gebracht. Gut hundert Stunden Durchstehzeit … Aber noch einmal: Es ist ein einmaliges Erlebnis!
Werfen wir kurz einen, natürlich subjektiv gefärbten, Blick auf die diesjährige Saison. Das eigentliche Highlight der abgelaufenen Proms war sicherlich – und so weist es auch die vom Guardian geführte Statistik der »Hottest tickets« aus – die konzertante Aufführung von Wagners Walküre mit Domingo, Meier, Halfvarson und Terfel. Nicht anders die Darbietung von Händels Julius Cäsar. Auch wenn die Stücke auf dem Spielplan der Londoner Royal Opera beziehungsweise des Glyndebourne Festivals stehen, so sind doch gerade diese Abende eine ganz besondere Herausforderung für die Sänger und Musiker.
Zu den unumstrittenen Höhepunkten zählte auch der Auftritt des West-Eastern Divan Orchestra unter der Leitung von Daniel Barenboim. Die Londoner gerieten so aus dem Häuschen, wie man es selten erlebt, und selbst nach zwei Zugaben hatten sie noch nicht genug. Ravi Shankar, die Legende auf der Sitar und mittlerweile 85 Jahre alt, gab ein hervorragendes Konzert. Traditionell ist die Aufführung von Beethovens Neunter, dieses Mal unter der Leitung von Kurt Masur. Zu erwähnen ist gleichfalls der Auftritt von Ingo Metzmacher, dem zukünftigen Chefdirigenten des Deutschen Sinfonie Orchesters, gegeben wurde unter anderem Hartmanns 6. Sinfonie. Apropos DSO: Dessen Auftritt unter Kent Nagano mit Weber, Chin und Bruckner auf dem Programm wurde als eher »not so hot« eingestuft, mit »nur« gut 2500 verkauften Karten war auch die Resonanz beim Publikum an diesem Abend nicht sonderlich groß.
Noch mehr Namen? Als Dirigenten standen am Pult John Eliot Gardiner, Christoph von Dohnányi, Mariss Jansons, Esa-Pekka Salonen, Zubin Mehta und Valery Gergiev, zu den Solisten zählten Anne Sofie von Otter, Andreas Scholl und John Williams, es reisten die Wiener Philharmoniker, das Cleveland Orchestra und das Royal Concertgebouw Orchestra an, und, und, und …
Wenn Sie jetzt sagen: »Das ist doch alles nur ein Traum«, haben Sie Recht. Aber ein Traum, der sich hören läßt.
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