Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

Pyrrhussieger

von Jörn Schütrumpf

Geschichte wiederhole sich nicht, lautet eine der Discount-Weisheiten in der Politik. Geschichte nicht, Problemlagen schon.
Heute sind sie alle Gewinner: die CDU, weil sie die meisten Zweitstimmen errungen hat, auch wenn sie dank Stoiber, Kirchhof, Mehrwertsteuer und grantelnder Granden über die Westentaschenterminatorin aus der Uckermark nicht nur in wenigen Tagen die sicher geglaubte absolute Mehrheit verspielte, sondern so schlecht dasteht wie seit langem nicht mehr – was für das Land ein Segen ist. Die SPD hat ohnehin gewonnen, weil sie sich nicht am vorigen Wahlergebnis, sondern an ihren schlechtesten Umfragedaten einige Wochen vor der Wahl mißt. Gewonnen hat auch Joschka – schon deshalb, weil er nichts besseres gelernt hat. Und die FDP erst recht; seit ihr Projekt wieder fünf statt achtzehn Prozent heißt, kann sie gar nichts anderes mehr als gewinnen, vor allem mit Leihstimmen. Wirklich gewonnen hat die Linkspartei. 2002 sah es so aus, als wenn sich auch auf bundesdeutscher Ebene westdeutsche Zustände breitmachen würden; nun sieht es in diesem Punkt doch eher nach einem Anschluß Deutschlands an die westeuropäische Zivilisation aus, mit einer lebensfähigen Partei links von dem, was früher Sozialdemokratie geheißen wurde. Doch übern Berg ist da noch nichts.
Viele »Gewinner« lügen sich – erschöpft vom Marathon durch Deutschlands öffentliche Räume – in die eigene Tasche; tief im Innern es besser wissend. Sie verdrängen die Erfolge der Nazis in Sachsen, auch bei dieser Wahl, vergessen deren Zulauf in Brandenburg, abermals ignorieren sie die erschreckend hohe Zahl der Nichtwähler.
Es riecht alles ein wenig nach 1928. Damals war die Welt auch noch »heil«. Die SPD legte bei den Wahlen im Mai 1928 ein wenig zu, ebenso die KPD, die Monarchisten verloren, die bürgerliche Mitte schmolz, und die NSDAP erreichte 2,6 Prozent. Zwei Jahre wurde die NSDAP mit 18,3 Prozent hinter der geschwächten SPD zweitstärkste Partei und verneunfachte ihre Mandate von zwölf auf 107, die bürgerliche Mitte hatte sich zum Sterben gelegt, die Monarchisten waren im Ab-, die KPD im Aufwind.
1928 war die SPD triumphal an die Regierung zurückgekehrt, ähnlich wie Schröder nach 2002 hatte sie aber binnen weniger Monate nicht nur ihre Wahlversprechen gebrochen, sondern sich auch als unfähig erwiesen, auf die 1930 sprunghaft gestiegende Arbeitslosigkeit zu reagieren. Es schlug die Stunde des Lumpenproletariats. Seit den Tagen des Weltkrieges hatten sich an den Rändern der Gesellschaft die »Überflüssigen«, die aus allen Schichten der Gesellschaft Herausgeschleuderten, die Mißachteten und Vergessenen, nicht selten sogar Verhöhnten, jene, die niemand wollte, politisch in der Gesellschaft zurückgemeldet. Die Weltwirtschaftskrise hatten sie zuerst gespürt; viele Nischen, in denen es sich bis dahin hatte überleben lassen, waren verschwunden oder von besser qualifizierten Neu-Arbeitslosen okkupiert worden. Die Ohnmacht wandelte sich in Wut und Haß. Deutschland erwachte!
Der lügende Landschaftsgestalter von der CDU hat den Osten entvölkern lassen. In den ländlichen Gebieten wird die Restbevölkerung mit Transferzahlungen am Fernsehgerät gehalten. Jeder und vor allem jede, die sich woanders – in Irland, Norwegen, notfalls auch in Gelsenkirchen – etwas für sich ausrechnen konnte, ist weg und kommt bestenfalls zu Weihnachten nachschauen, wer noch lebt. In vielen Kleinstädten Mecklenburgs, Vorpommerns, der Uckermark, in der Lausitz und im Elbsandstein- wie im Erzgebirge ist bei Bildung und Kultur der Vorkriegsstand wiederhergestellt – als wenn es im Osten nicht jahrzehntelang eine Bildungsoffensive gegeben hätte; die Einheit marschiert.
Wer hier dauerhaft bleibt, dem droht der Abstieg ins Lumpenproletariat. Gerhard Schröder – und zwar vor allem er – hat mit Agenda 2010 und Hartz IV die Lumpenproletarisierung nun auch in den Westen getragen. Überall in Deutschland wächst ganz unmerklich eine »Kampfreserve der Partei« – der Partei des Faschismus, auch wenn der mit dem historischen äußerlich nur wenig gemein haben dürfte.
Auf die Linke – und damit meine ich ausdrücklich nicht allein die Linkspartei – kommt eine ungeheure Verantwortung zu. Dann wird 2009 vielleicht doch kein zweites 1930; die Zeit läuft.