Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

»… ohne Formalitäten und Zeremonien …«

von Wladislaw Hedeler

Im neuesten, in Moskau veröffentlichten Totenbuch Rasstrelnye spiski über Donskoj-Friedhof und Donskoj-Krematorium sind die Namen von 5068 erschossenen Frauen und Männern verzeichnet, die zwischen dem 15. März 1935 und dem 15. Dezember 1953 auf diesem Friedhof verscharrt oder in dem nahegelegen Krematorium eingeäschert wurden. Das Buch lag zur Einweihung des Gedenksteins Anfang Juli vor. Zu den auf den über fünfhundert Seiten aufgezählten Opfern gehören 83 in den 1930er Jahren vom NKWD verhaftete deutsche Politemigranten und 674 Frauen und Männer, die vom Militärtribunal der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland beziehungsweise vom Militärtribunal der Zentralen Gruppe der Streitkräfte in Österreich zum Tode verurteilt worden waren.
Deutschsprachige Editionen, die die Namen dieser Opfer enthalten, sind in Vorbereitung. Arseni Roginski, Mitarbeiter der Moskauer Menschenrechtsorganisation Memorial, skizziert im Nachwort die Entstehung dieser Erschießungsliste, die an die vorhergehenden Editionen von Moskauer Listen mit den Namen der Opfer des 1937 einsetzenden »Großen Terrors« anknüpft. (Über den Abschluß der Ausgabe der Butowo-Listen informierte das Blättchen unter dem Titel Endstation Butowo in der Ausgabe vom 15. März 2004.) Interessant ist, daß die Moskauer Historiker bisher keine Dokumente über die Erschießung politischer Gefangener in Moskau in den ersten drei Jahren der Sowjetmacht haben finden können. Auch für die Jahre 1922 bis Dezember 1934 liegen nur Angaben über Verurteilungen durch außergerichtliche Organe vor.
Unmittelbar nach der Ermordung Kirows im Dezember 1934 wurden neunzehn Personen verhaftet, die Grigori Sinowjew und Lew Kamenew nahestanden. Auf den Prozeß gegen das »Moskauer Zentrum« folgten der Prozeß gegen Mitglieder der Arbeiteropposition und der »Kreml-Prozeß«. 1936 fand der erste der Moskauer Schauprozesse statt. Die Leichen fast aller Verurteilten und vieler ihrer Angehörigen wurden, nachdem sie in den Gefängnissen Butyrka oder Lefortowo hingerichtet worden waren, in das einzige Moskauer Krematorium gebracht. Auf dem nahegelegenen Friedhof sollten sie oder ihre Asche »ohne Formalitäten und Zeremonien« verscharrt oder vergraben werden. Ein vom Vorsitzenden des Tribunals und vom stellvertretenden Staatsanwalt der RSFSR unterzeichnetes Rundschreiben enthielt die Weisung, jegliche Spuren auf ein Grab oder eine Grabanlage zu vermeiden. Die Henker hielten sich stets an diese Vorschrift.
Unterdessen hat man weitere Hinrichtungsstätten entdeckt, so die Massengräber auf dem Gelände des Krankenhauses an der Jausa oder auf dem Wagankower Friedhof. In den Jahren des Großen Terrors wurden die Leichen der über 20 000 Erschossenen in den Massengräbern in Butowo oder in Kommunarka verscharrt. Eine Kommission des Politbüros des ZK der KPdSU(B) wachte über die Durchführung. Während des Krieges dauerte das Morden an, von Mai 1947 bis Januar 1950 war die Todesstrafe aufgehoben, danach ging es bis zu Stalins Tod weiter.
Gedenksteine in Donskoe erinnern an die Angeklagten im Prozeß gegen das Antifaschistische Jüdische Komitee und an die in der sogenannten »Leningrader Strafsache« Verurteilten.
Um sich ihrer Opfer in aller Stille zu entledigen, wurden die nach dem Krieg in Deutschland und Österreich Verhafteten entweder direkt nach Moskau oder zunächst nach Brest und von dort aus in die Butyrka übergestellt. Weitere Gedenktafeln auf dem Friedhof erinnern an die Opfer des Terrors aus Polen, Ungarn und Japan. Mit dem Buch, in dem alle Opfergruppen vertreten sind, soll allen ein Denkmal gesetzt werden.