von Herbert Wöltge
Gelegentlich haben die deutschen Wissenschaftsakademien den Drang, sich der Öffentlichkeit in Erinnerung zu bringen. Dann präsentieren sie sich – bevorzugt in der Hauptstadt der Republik und meist nur einen kurzen halben Tag lang – mit Wirken und Werken für ein laienhaftes akademisches Publikum, ohne je das Aufsehen einer mittleren Kunstausstellung zu erreichen. Aber man kann, bei genauerem Hinsehen, viele bemerkenswerte Exponate und Erkenntnisse registrieren. Auch solche, die kulturell-historisch vielleicht nicht so auffällig sind, aber Beachtung verdienen.
In der Präsentation der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Berlin wurde kürzlich an einen Vorgang erinnert, der zwar lange zurückliegt, der aber auch heute noch brauchbare Erfahrungen vermittelt: Im dritten nachchristlichen Jahrhundert ließ der römische Kaiser Caracalla seinen Bruder Geta ermorden, da der ihm bei der Ausübung seiner Herrschaft hinderlich war – ein in Kaiserkreisen damals üblicher Bereinigungsvorgang. Caracalla, nach Getas Tod immer noch über ihn erzürnt, hielt das körperliche Ableben des Rivalen für eine nicht ausreichende Strafe und beantragte beim Senat in Rom die Höchststrafe: die damnatio memoriae.
Das bedeutete: Das Andenken an den Verstorbenen wird aus dem offiziellen Bewußtsein gelöscht, Statuen und Bildnisse des Toten werden zerstört, sein Name in Inschriften, Münzen und Papyri getilgt. Es war die Ausdehnung der Ermordung auf das Jenseits, aus Vorsicht, er könnte von dort aus noch Schaden stiften. Soweit Caracalla.
Ein interessanter Vorgang, denkt man an die Entsorgung von Geschichte heute, an Bücherverbrennungen, Straßen- und Friedhofsumbenennung, Bilderwechsel in Amtsstuben und auf Briefmarken, Streichungen aus Ehrenbürgerlisten.
Erinnerungstechnisch gesehen handelt es sich aber um ein überholtes Modell von Problembewältigung, das in Ost wie West angewendet wurde, aber doch abgewirtschaftet hat. Nachträgliche damnationes sind längst abgearbeitet, die mediale Infowelt läßt eine vollständige Entsorgung nicht mehr zu. Eine richtige damnatio ist allenfalls noch begrenzt wirksam in Kombination mit Mythen- und Legendenbildung.
Als rezente Methode wird nun das aktive Vergessen gepflegt. Hier liefert die Politik Hilfestellung und Linie. Die Politiker geben vor, was und wie erinnert werden soll (wie es neuerdings heißt) und was nicht. Dieses Vergangenheitsmanagement heißt befremdlicherweise Erinnerungspolitik und nicht Vergessenspolitik, und es ist umkränzt von Termini wie Erinnerungslandschaft, Erinnerungswerte, Erinnerungs-, Gedenk- und Gedenkstättenkultur.
Aber es ist immer das Gleiche: Auswahl aus der Vergangenheit. Auswahl als aktives Vergessen des Nicht-Ausgewählten, Neuzusammenstellung vergangener Wirklichkeit nach eigenem Gutdünken. Beispiel etwa im Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages: »Der 8. Mai in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland« (Der Aktuelle Begriff, Nr. 27/05 vom 4. Mai 2005). Neben den ausgewählten Fakten werden auch Wertungen mitgeliefert. Daran kann man sich halten, bei welchem Blatt oder Medium man auch arbeitet. Früher war das anders, da mußte man sich daran halten. Aber, wie schon gesagt, das Ergebnis bleibt immer gleich.
Ein schönes, überzeugendes Beispiel für aktives Vergessen bot jüngst, um eine weitere Akademie-Präsentation zu erwähnen, die Ausstellung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im Berliner Abgeordnetenhaus. In der Wandelhalle, vor den geschäftig hin und her wandelnden Parlamentariern, ist es glänzend gelungen, die Geschichte einer anderen Einrichtung, nämlich der Akademie der Wissenschaften der DDR, für das eigene Renommee zu nutzen, ohne auch nur andeutungsweise deren letzten fünfzig Jahre im Blickwinkel zu haben. Die ungeliebte Vergangenheit wird total ausgeblendet, was wiederum von exzellenter Adaption der damnatio zeugt, sozusagen ein Spitzenbeitrag zur Erinnerungskultur im Lande. Um ein Beispiel zu geben: Ausgestellt wurde auch die von Leibniz konstruierte Rechenmaschine, ein in langjähriger Arbeit geschaffener Nachbau des Dresdener Mathematikers Nikolaus Joachim Lehmann, Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR.
Leider war im Begleittext der Ausstellung weder dies noch die Tatsache vermerkt, daß der Erbauer sein Werk der Gelehrtengesellschaft der DDR-Akademie als Geschenk auf der Plenarveranstaltung am 12. März 1992 überreichte. Im Protokoll der denkwürdigen Sitzung wird Lehmann mit den Worten zitiert: »Möge unsere Akademie die gegenwärtige schwere Krise überwinden und in Kontinuität die ihr gestellte Aufgabe weiterführen, nämlich beizutragen zur Entwicklung aller Wissenschaften, diese zu fördern zum Nutzen unseres Landes und zum Wohl aller Menschen.«
Aktiv beim Vergessen war auch der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie, Dieter Simon, der sich in einem auf der Ausstellung reichlich ausgelegten Zeitungspapier als direkter Abkömmling von Leibniz schmeicheln ließ: Von Leibniz zu Simon, so die Überschrift, und nur ein erinnerungspolitischer Blindgänger würde darauf verweisen, daß dieser Weg schnurgerade über Johannes Stroux (Präsident von 1946 bis 1951), Werner Scheler (1979 bis 1990) und Horst Klinkmann (1990 bis 1992) führte.
Aber warum immer nur mäkeln: Positiv gedacht, beweist diese Anwendung der damnatio memoriae den Mut zur Lücke. Lücken als leere historische Räume zu schaffen, ist als hochinnovativer Vorgang einzustufen. Und so zeugt das beharrliche Streben, den DDR-Teil der Akademiegeschichte als Leerraum zu konstruieren, von kreativer Vergessenspolitik. Gefahr aus den eigenen Reihen dürfte nicht drohen, da Simon schon vor Jahren die Beschäftigung mit der Akademiegeschichte als Forschungsgegenstand an der BBAW abgeschafft hat. Simon hat damit ein Zeichen gegen den verderblichen Hang zur Vollständigkeit gesetzt. Denn nur wo Lücken sind, kann neue Kreativität wachsen.
Philosophisch ist die Theorie der Lücke allerdings einigermaßen delikat, weil sie der Theorie des Nichts nahesteht, und so hat auch der kreative Leerraum seine besonderen Tücken. Er erzeugt, wie auch weit vor Caracalla bereits bekannt war, den horror vacui, die Angst vor der Leere, wobei horror auch gelegentlich mit Abscheu und Ekel übersetzt wird, sozusagen als der Erfinder von Heulen und Zähneklappern. Jede Leere aber hat, wie schon Aristoteles vermutete, den Drang, sich mit irgend etwas zu füllen. Deshalb hat die damnatio memoriae eigentlich noch nie so richtig geklappt. Wie Getas Beispiel zeigt, höchstens für ein, zwei Jahrhunderte.
Schlagwörter: Herbert Wöltge