von Frank Ufen
Gegenwärtig werden in Deutschland etwa 15,7 Millionen Rinder, 23,7 Millionen Schweine, 2,5 Millionen Schafe und 600 000 Pferde gehalten. Das sind 250 große Säugetiere auf jedem Quadratkilometer der landwirtschaftlich genutzte Flächen – und damit mehr als zweieinhalb Mal so viel wie in der Serengeti, der an Wildtieren reichsten Region der Erde. Aber anders als in der Serengeti, wo es so gut wie keine menschlichen Ansiedlungen gibt, wird Deutschland außerdem von 82 Millionen Menschen bevölkert. Schon diese einfache Rechnung, behauptet der Münchner Zoologe und Ökologe Josef Reichholf, sei Beweis genug, daß die Viehbestände in Deutschland weitaus größer sind, als seine Böden ernähren und verkraften können. Und das habe verheerende Auswirkungen auf den Naturhaushalt.
Schon vor einiger Zeit hat Reichholf eine Entdeckung gemacht, die mit den idyllischen Vorstellungen vieler Naturschützer schlecht zu vereinbaren ist: Die weitaus meisten Tier- und Pflanzenarten gibt es gegenwärtig in Deutschlands Großstädten, die wenigsten hingegen auf seinen Äckern und Weiden. In Berlin sind heute mitten in der Stadt mindestens 140 verschiedene Brutvogelarten – darunter die seltenen Seeadler, Wanderfalken, Uhus und Nachtigallen – zu finden, und mehr Haubenlerchen als im gesamten Bayern. In Berlin haben sich etwa fünfzig freilebende Säugetierarten niedergelassen – womit fast sämtliche der in Deutschland überhaupt vorkommenden Säugetiere vertreten sind. Ähnliches gilt für die Schmetterlinge. Während in München nicht weniger als 350 nachtaktive Arten leben, ist ihre Anzahl auf dem freien Ackerland auf fünfzehn bis zwanzig geschrumpft.
Daß die Städte mittlerweile zu Oasen der Artenvielfalt geworden sind, läßt sich nach Reichholf leicht erklären: In den Städten sind winzige Reste solcher Lebensräume erhalten geblieben, die anderswo längst vernichtet wurden; in den Städten sind die Tiere vor der Verfolgung durch die Jäger relativ sicher; und die Städte haben einen entscheidenden Vorteil: Die hochgradige Bodenversiegelung bewahrt sie davor, von Düngemitteln erstickt zu werden.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelangten im Durchschnitt dreißig bis fünfzig Kilogramm Stickstoff pro Jahr auf jeden Hektar der deutschen Fluren. Etwa die gleiche Menge wird heute allein von den Kraftfahrzeugen und Heizkraftwerken freigesetzt, und sie belastet in hohem Maße die Wälder, Trocken- und Magenrasen, Moore, Seen und Naturschutzgebiete. Außerdem produziert inzwischen das Millionenheer der Schweine und Rinder derart viel Gülle, daß zusätzlich Berge von Stickstoff-, Phosphor- und Kaliumdünger anfallen, die nicht mehr abgebaut werden können.
Diese extreme Überdüngung, die inzwischen den Großteil der Böden und Gewässer erfaßt hat, zieht tiefgreifende Veränderungen der Flora und Fauna nach sich. So können sich einige wenige Pflanzenarten wie der Riesenbärenklau, der Riesenknöterich und das Drüsige Springkraut, die eine Vorliebe für nährstoffreiche Böden haben, auf Kosten der meisten anderen massenhaft vermehren, und das hat wiederum weitreichende Auswirkungen auf die Nahrungsgrundlage etlicher Tierarten. Reichholf macht in diesem Zusammenhang auf ein paradox anmutendes Phänomen aufmerksam: Dank immer aufwendigerer Kläranlagen gelangen kaum noch menschliche Abwässer und industrielle Gifte und Schadstoffe in die deutschen Bäche, Flüsse und Seen. Aber trotzdem gehen die Fischbestände kontinuierlich zurück. Auch hieran, erklärt Reichholf, ist die Landwirtschaft nicht unschuldig. Denn die Abwässer aus der Massenviehhaltung, die ungefiltert in die Bäche und Flüsse eindringen, enthalten solche Substanzen im Übermaß, die die Algen gedeihen lassen, aber nur klägliche Reste der organischen Bestandteile, von denen sich die Fische, Muscheln und Krebse ernähren. Reichholf schätzt, daß jeden Tag fünfhundert Arten aussterben. Diese Zahl ist anfechtbar; aber daß gegenwärtig ein Massensterben stattfindet, ist schlecht zu bestreiten. Es findet allerdings nicht in Europa statt, sondern in den Regenwäldern Amazoniens und Südostasiens, die gerodet werden, um Platz für Rinderfarmen und für den Anbau der Futtermittel zu schaffen, auf die die europäische Landwirtschaft dringend angewiesen ist. Die tropischen Regenwälder sind hochempfindliche Ökosysteme. Da sie auf äußerst kargen Böden wachsen, sind sie gezwungen, sich die meisten Nährstoffe mühsam auf dem Luftweg zu verschaffen, und sie bringen kaum pflanzliche Überschüsse hervor.
Reichholf schreibt außerdem über die Ursprünge und die Geschichte der Rinderkultur, und er mutmaßt, daß die Rinderzucht den Anstoß zur Erfindung der Sklaverei, des Patriarchats, der Polygamie und des Harems gegeben haben könnte. Das sind anregende, aber waghalsige Spekulationen. Doch ansonsten werden Reichholfs ketzerische Thesen durch eine Fülle empirischer Befunde gestützt. Ein herausragender Beitrag zur politischen Ökologie.
Josef H. Reichholf: Der Tanz um das goldene Kalb. Der Ökokolonialismus Europas, Wagenbach Verlag Berlin, 217 Seiten, 19,50 Euro
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