von Hans-Dieter Schütt
Opposition ist Tugend. Adel. Oder aber tristes Schicksal – wenn man stets nur mit abschlägiger, feindseliger Ansicht gegen die Gesellschaft pirscht. Mit immergleichem Vokabular das Immergleiche kritisieren will, muss. Jeden Tag den gleichen Kommentar, variiert. Leitartikel heißt mitunter nur: Der Schreiber hat seine Leitplanken.
Nach Ansicht Erich Kästners ist es ein Unterschied, ob man darüber redet, wie die Dinge liegen, oder darüber, wie die Sache steht – er plädiere für Letzteres. Kästner richtete dieses Nonsens-Wortspiel gegen die Neigung, sich im Sog drückend unübersichtlicher Einzelheiten andauernd von kämpferischer Verstimmung überwältigen zu lassen. Solche Verstimmung ist weit verbreitete Anfälligkeit eines Denkens, das mit dem Diffusen der Weltlage nicht Schritt halten mag. Gesinnung produziert Soldaten. Gespanntheit. Unversöhnlichkeit. Man befiehlt sich seine Meinung geradezu herbei, darf nicht zugeben, wie viele miteinander streitende Ansichten in einem selber Platz haben. Man drückt das, was von politischer Erwartung abweicht, an die Herzwände. Bis nichts mehr weh tut.
Hans Magnus Enzensberger dagegen beschwört unsentimental – Gelassenheit. Weil man es in den Trostlosigkeiten des Ichs und der Welt auch heiter aushalten kann. Ach, wenn man nicht zu viel verlangt? Nein, wenn man nicht fortwährend das Falsche erwartet.
Enzensberger ist ein scharfer, spottspitzer Kritiker. Aber er bleibt stets der Überraschungsfähige, dem sich extreme Impulse des Daseins, das Bewusstsein und das Unbewusste, die Erkenntnis und die Unkenntnis immer wieder ausgleichen, und sei es nur für einen jeweiligen Moment. Gleichgewichtskunst: Skeptisch relativiert sie alles – und besingt es doch mit innerer Beteiligung.
Nun veröffentlichte Enzensberger „Zwanzig Zehn-Minuten-Essays“, er nennt sie sein „Panoptikum“, Karl Valentin folgend, der so 1935 sein „Kuriositäten- und Gruselkabinett“ bezeichnete. Enzensberger ist in diesen jeweils drei, vier Seiten kurzen Texten ein Verständnispapst fürs Alltägliche. Kein Narr, aber doch wohl dessen naher Verwandter: ein Schelm.
So attackiert er die „schwabbelige Konsistenz“ jener in Deutschland andauernd beschworenen „Werte“, mit denen sich Politiker und Journalisten mahnend und moralgesandt zu Wort melden; „die Ethikbranche blüht“ – aber die da hohl und hehr salbadern, sie benutzen doch nichts weiter „als ein metaphorisches Plagiat aus dem Wortschatz der Ökonomie“. Wertediskussion? Ja, wichtig, wichtig – wenn es denn um Cholesterin- und Dioxinwerte ginge.
Auf das viel geäußerte Unbehagen am geknebelten Zustand hiesiger Kultur reagiert er so: „Niemand kann doch die Veranstaltungen, Festspiele, Vernissagen, Konzerte, Ausstellungen und Symposien zählen, zu denen Tag für Tag in allen Winkeln des Landes geladen wird.“ Und die Abonnenten der Staatstheater – ebenso wie die Ministerien, die für die Subventionen sorgen –, sie legen doch „eine historisch einmalige Engelsgeduld an den Tag. Niemanden stört es, wenn auf Kruzifixe gepinkelt oder in trautem Miteinander gevögelt wird“. Kultur sei doch nach wie vor „ein mächtiger Attraktor“, dessen grassierende „Abschreckungswirkung“ zum Publikumsmagneten geworden sei.
Der Schriftsteller erfreut sich an einem Denken, das landläufigen Behauptungen und Trends pfiffig widerspricht. Am liebsten fährt er Moralismen aller Art schräg an, entkleidet sie ihrer Sittlichkeitskostüme, um dann, am Nullpunkt, die wahre Moral zu entdecken – sie lebt im Mikrokosmos des unbehelligt von Ideologien lebenden Menschen. So schaut Enzensberger auf klassische ökonomische Theorien herab, in denen die meisten Menschen ja nur als abstrakte Größen vorkämen, geschrumpft zu Lohnempfängern, Verbrauchern, Versicherungsnehmern, Anlegern, Aktionären, Unternehmern, Sparern, „und in jeder dieser Rollen kennen sie offenbar nur ein einziges Interesse: Sie wollen ihren ökonomischen Vorteil maximieren, und sonst gar nichts.“ Aber da ist die andere, die menschliche „Mikroökonomie“: etwa „der Hausarzt, der sich leidenschaftlich in einer Singakademie engagiert, einmal im Jahr aber immer eine Reihe von Proben versäumt, weil er sich wochenlang in Burundi oder im Kongo herumtreibt, wo er nicht nur bei „Médecins Sans Frontières“ Erste Hilfe leistet, sondern es auch mit Kindersoldaten und Warlords aufnimmt; die Flugtickets scheint er aus eigener Tasche zu bezahlen“.
Oder die polnische Tante, die alle zwei Wochen mit dem Bus zwölf Stunden lang heim fährt, sich um die Mutter kümmert, dann zurück, wieder Putzen in Deutschland. Hat kein Konto, zahlt keine Steuern, nimmt nur Bargeld. „Sie ist jedoch von einer unerschütterlichen Ehrlichkeit, weil sie weiß, dass Jesus alles andere missbilligen würde.“ Tragen nicht wesentlich auch sie die Welt? Menschen, unpanisch, nicht infiziert von den eifrigen Pastoren einer geradezu seriellen Generalabrechnung mit dem gesellschaftlich Gegebenen. Nicht angesteckt von den unablässig fleißigen Schwarzmalern.
Provokativ lobend schreibt Enzensberger über Privilegien (weil beinahe jeder welche hat); am Rentnersein interessiert ihn die Lust, nicht die Last; er sinniert über tropfende Kaffeetassen und Transparenz; er fängt mit Beobachtungen zum Kaugummi an und gelangt zum klebrigen Größenwahn der Geheimdienste. Er klopft auf Schlagwörter der allgemeinen Kommunikation, und sie bersten; er durchleuchtet Statistiken und Sozialberichte, und sie offenbaren Überraschungen jenseits von Anklage und Wehleidigkeit; er entdeckt in scheinbar unehrlichen Berufen die Würde und bestätigt ehrbaren Professionen den Ruch; er nennt Anlageberater die „Nachfahren der Taschen- und Hütchenspieler“.
Im Essay bleibt Enzensberger dem treu, was seine Lyrik prägt. Schon die Titel seiner Gedichtbände wiesen auf des Autors antizyklische Veranlagung hin. So feierte er in schwerem Diskurs-Qualm, was „Leichter als Luft“ wiegt; inmitten der Aufklärungs- und Klarheitsmanien stand er glücksschaudernd vor den Geheimnissen der „Blindenschrift“; in lammfrommer Gegend hub er an zur „Verteidigung der Wölfe“. Immer gegensatzverliebt, allergisch gegen jene, die mit dem Plakat „Dialektik“ vor der Stirn nur ihre Widerspruchsfeindschaft kaschieren.
Seit jeher lauert dieser Autor geradezu kaltblütig, zumindest unsentimental darauf, einer jeden These, die Zeitgeist wird (oder es partout nicht sein will), umgehend eine gegenteilige Argumentation zu präsentieren. Mit betörendem Gespür für das Farbige im Leben; „wir neigen alle dazu, uns zu wichtig zu nehmen, und die Welt ist größer als das, was in der Zeitung steht“. Größer ist die Welt und reicher als der gepredigte Fortschritt, die geheiligte Ökonomie und die ideologisch aufgerüstete Effizienz.
Just der Stachlige preist den „Common sense“, der nämlich schütze vor „dogmatischen Zumutungen“. Common sense: diese allgemeine Übereinkunft, Leben lohne sich und verdiene unbedingt unsere Aufgeschlossenheit. Das Schöne: Im Grunde seines Herzens bleibe der Common sense „sogar beim Glauben, dass die Sonne auf- und untergeht, obwohl jedes Kind schon in der Schule lernte, dass der Augenschein täuscht.“
Enzensberger zählt das Elend auf, „überall Parkverbot, Börsencrash, Computerabstürze, Fußballkrawalle, Tornados, Mieterhöhungen, Ozonlöcher, Staus und asymmetrische Kriege“ – wer Gedichte liest, wisse Bescheid: „Überstehen ist alles.“ Aber: „Man betritt den nächsten Supermarkt, und pünktlich liegt die Flasche mit der frischen Milch bereit. Man überquert die Straße und kein MG-Feuer ist zu hören. Es klingelt an der Tür, und nicht der KGB, der Verfassungsschutz oder die Mafia suchen uns heim.“ Wir leben in geordneten Verhältnissen, sie wurden der Weltgeschichte, allen bösen und gut meinenden Diktaturen über Jahrtausende hinweg abgetrotzt. Lächeln möglich? Wenigstens einmal! Enzensbergers Lupen-Umkehr: das Nahe von fern betrachten, das Ferne und Fremde so weit heranzoomen, bis einem das Wort Vertrauen in den Kopf kommt. Vertrauen in Welt und Gesellschaft, in dich selbst.
Diese Essays sind unablässig unzuverlässig, ihr Autor ist ein Geist fortwährenden Übergangs. Aber wer könnte schon glaubhaft einen Existenz-Zustand festmachen, der nicht Übergang wäre – was ja ewigen Fort-Gang, Untergang von Leben einschlösse. Recht haben, ja, vielleicht. Recht behalten, nein.
Hans Magnus Enzensberger: Enzensbergers Panoptikum: Zwanzig Zehn-Minuten-Essays, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 134 Seiten,14,00 Euro
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