16. Jahrgang | Nummer 2 | 21. Januar 2013

Bemerkungen

Lichtblick

In einer Zeit des allgegenwärtigen Niedergangs von Printmedien mit zum Teil langer Tradition wagt ein Online-Partner des Blättchens den Sprung in die Print-Welt: Schattenblick, die wohl älteste deutsche Online-Tageszeitung (seit 1994), die regelmäßig Beiträge aus dem Blättchen übernimmt, erscheint nunmehr auch als Wochenzeitung zum Preis von 2,50 Euro. Die erste Ausgabe vom 16. Januar umfasst 48 (werbefreie) Seiten.
Wir gratulieren den Machern von Schattenblick zu ihrem Print-Start, unterstreichen das im Editorial vermerkte Credo, dem zufolge „es […] nie zu wenig Leser geben [kann], sondern nur zu wenig Lesestoff, der die Bezeichnung verdient“, und wünschen dem Projekt von Herzen Erfolg.

Die Redaktion

Bestellung über redaktion@schattenblick.de oder telefonisch (04837-902698).
Online-Ausgabe:
www.schattenblick.de.

Blättchens Jesajah

Eine Zeitschrift, die überleben will, muss alle Möglichkeiten nutzen, um Leser an sich zu binden – das gilt selbstredend auch für das Blättchen. Daher haben wir uns entschlossen, außer den jährlichen Jahreshorrorskopen nun auch punktuelle Wahrsagungen zum Bestandteil dieser Publikation zu machen.
Diesmal soll sie sich mit dem Werdegang jener sozialen Grausamkeiten befassen, die jüngst medial für die Zeit nach der Bundestagswahl avisiert worden sind.
Blättchen-Seher Jesahja (der bürgerliche Name liegt der Redaktion vor) sieht also folgendes Szenario:
Ein MdB-Hinterbänkler oder ein Subalterner Schäubles lässt den Medien gegenüber den Plan seines Ministers durchsickern, dass dieser im tapfer halluzinierten Fall der Wiederwahl die Märchensteuer von Kulturgütern von bisher sieben auf dann ebenfalls 19 Prozent erhöht, dass das Rentenalter auch über das Alter von 67 weiter angehoben, dass der Zuschuss des Bundes zum Gesundheitshaushalt um zehn Milliarden gesenkt und die Witwen/r-Renten gesenkt werden.
Unser Seher sieht weiter, dass ein Sturm der Entrüstung durchs Land fegt, mit dem massereichen Siegmar Gabriel an der Spitze ruft es allerorten: No pasaran!
Dann sieht unser Seher, worauf er zu sehen innerlich längst vorbereitet war: Schäubles Finanzministerium dementiert entrüstet und klagt über die Gemeinheit der Medien. An alldem dort Verlautbarten ist natürlich nichts dran, Pfui Spinne!
Den Blick auf die Zeit nach den Wahlen gerichtet, sieht unser Seher schließlich, was immer geschieht in diesen Fällen, in denen der Volkszorn per vorzeitigem Blitzableiter geerdet wird: Es wird so kommen, wie dementiert, wetten, dass?

Heinz Wilhelm Jesahja

Ein Jahresanfang

Das Leben ist grausam
und schrecklich gemein.
Die Prinzen

Es war der Vormittag mit dem ersten Schnee der Saison, etwa um die Tageszeit der Flaneure, wenn diese aus Berlin-Dörfern zwecks Müßiggang „nach Berlin“ zu fahren pflegen.
Die Haltestelle der Straßenbahn ist in dem Zustand, der Nutzer wie Räumverpflichtete stets zum Grübeln bringt: Wird das Nass über uns als Schnee, Regen oder gar nicht herunterkommen?
Sie steht vor dem Fahrplan, scheinbar im Versuch, dort etwas herauszulesen, was nicht drinsteht, demnächst aber vermittels Leuchtanzeige erfahrbar gemacht werden soll. So fragt Sie, nach Hundertstel-Sekunden-Musterung und Kenntnisnahme, dass kein anderer Adressat verfügbar, wie spät es jetzt sei.
Sie hat sichtbar keine Uhr, noch macht sie Anstalt, nach einem Gerät zu kramen, mit dem sie sich selbst Antwort geben könnte. Welch Luxus – ohne Zeitmesser unterwegs!
Also mein Versuch, sachlich zu antworten, freilich nicht ohne den Zusatz, heute könnten Zeit und Fahrplan moralisch begründet auseinander driften. Da: Die Bahn – und pünktlich!
Darin dann eine Doppelbank, schräg dahinter der sonst begehrte Einzelsitz frei. „Es ist, als hätt’ der Himmel…“ – natürlich nicht, es ist nur, als hätte sie einen Wimperschlag lang den Schritt verhalten. Aber man kann sich auch auf einem Zweisitzer unter Missbrauch von Leibesfülle so platzieren, dass man den hinteren Einzelsitz im Auge hält und die Angesehene dies auch zur Kenntnis nimmt – sofern gewollt.
Dann: Es gibt auch einen parallelen Einzelsitz, den man beim Blick nach hinten streift. Und dort „ein Freund, ein guter Freund“ – hundert Jahre nicht gesehen. Diese Freude!
Die Unbekannte amüsiert, auch etwas resigniert (?), mit Verständnis für den Wandel der Situation; aber wohl noch mehr interessiert, wie ich aus dieser Nummer herauskomme. Das Schicksal bietet die zweite Chance, falls es je eine erste gab: Der Freund entsteigt. Bis zur S-Bahn „nach Berlin“ aber nur noch eine Station, die kürzeste Fahrstrecke in diesem Leben. Keine Zeit für Nebensachen.
Ich sage: „Wenn wir etwas miteinander hätten oder damit beginnen wollten – einen ersten Zeugen dafür gibt es schon. Noch ehe es begann.“ Und: „Alles zehn Jahre früher…?“
Die Bahn hält; Sie fasst meinen Arm, mir ziemlich nahe in der vollen Bahn, schaut mich offensichtlich mit Wohlwollen an und sagt: „Ja.“
Ich sehe sie am Fenster vorübergehen. Wie in Kindertagen die Herausforderung: Wenn sie sich umdreht, hüpfe ich verkehrswidrig aus der Bahn. Das Schicksal meint es gut mit uns. Sie dreht sich nicht; aber ich habe das Empfinden, ihr Rucksack sei jetzt etwas schwerer, als er es wirklich ist.
„Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung.“ Wieso fällt mich gerade jetzt diese Zeile an, und woher? Oscar Wilde war’s. Er lässt Lord Darlington zu Lady Windermere sagen: „I can resist everything except temptation.“. Also nichts Neues unter der fahlen Winter-Sonne.
Doch Trost für alle, die dies Dilemma oder vergleichbare Grausamkeiten des Lebens kennen: Das neue Jahr hat ja gerade erst begonnen, und der Weltuntergang fand auch nicht statt.

Korff

Lichtenberg: Tatsachen und Meinungen …

Es ist eine ganz bekannte Tatsache, daß die Viertelstündchen größer sind als die Viertelstunden.

Und ich dank’ es dem lieben Gott tausendmal, daß er mich zum Atheisten hat werden lassen.

Jeder Fehler erscheint unglaublich dumm, wenn andere ihn begehen.

Eine goldene Regel: Man muss die Menschen nicht nach ihren Meinungen beurteilen, sondern nach dem, was diese Meinungen aus ihnen machen.

Es hatte die Wirkung, die gemeiniglich gute Bücher haben. Es machte die Einfältigen einfältiger, die Klugen klüger, und die übrigen Tausende blieben ungeändert.

Der Mann zu sein, der so absolut in Deutschland herrschen könnte wie ich auf meinem Schreibtische, wünsche ich mir nie. Ich würde gewiß nur Tintenfässer umwerfen und durch Aufräumen die Sachen nur noch mehr verwirren.

Weiser werden heißt immer mehr und mehr die Fehler kennenlernen, denen dieses Instrument, womit wir empfinden und urteilen, unterworfen sein kann. Vorsichtigkeit im Urteilen ist, was heutzutage allen und jedem zu empfehlen ist. Gewönnen wir alle zehn Jahre nur eine unstreitige Wahrheit von jedem philosophischen Schriftsteller, so wäre unsere Ernte immer reich genug.

Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799)

Positiv Bekloppte bei Union Berlin …

Randale und Gewalt bei Fußballspielen haben in letzter Zeit recht häufig Schlagzeilen gemacht. Immer häufiger wird die sogenannte Fankultur beleuchtet, wobei der Begriff nur zu oft ad absurdum geführt wird. Es war daher Balsam fürs Gemüt, in der Berliner Zeitung ein Interview mit Torsten Mattuschka, den Kapitän von Union Berlin, zu lesen. Auf die Frage, ob Union in der Reihe der Ost-Klubs eine Sonderrolle einnehme, antwortet Mattuschka: „…Bei Union sind die Fans positiv bekloppt. Die Leute haben sich krankschreiben lassen und Urlaub genommen, um beim Stadionbau zu helfen. Und sie haben immer diese positive Haltung.“ Das mit dem Krankschreibenlassen kommt bei Arbeitgebern vermutlich nicht so gut an, aber der Einsatz für den Verein ist schon bemerkenswert. Mattuschka gibt ein weiteres Beispiel für die positive Haltung: „Beim 0:4 zu Hause gegen Fürth vor eineinhalb Jahren haben sie geklatscht, weil sie gesehen haben, dass das ehrliche Arbeit war und du alles probiert hast…“ Irgendwie wünscht man sich mehr von solchen Bekloppten im deutschen Fußball.

mvh

Hoffnung in der Hosentasche

Die Lofoten sind mehr als ein Insidertipp für Skandinavienurlauber. Die vor der norwegischen Küste liegende Inselgruppe liegt nördlich des Polarkreises im atlantischen Ozean. Hier wurde 1956 auch Kari Bremnes geboren, die sich nach ihrem geisteswissenschaftlichen Studium gegen die eingeschlagene journalistische Berufslaufbahn und stattdessen für eine musikalische Karriere entschied.
Und Kari Bremnes ist nach vierzehn Alben nicht nur in Norwegen, sondern inzwischen auch in Deutschland mehr als nur ein Insidertipp. Ihr aktuelles Album „Og så kom resten av livet“ besticht wie ihre Vorgängerwerke durch einen klaren Sound, der einen nachhaltigen Eindruck beim Anhören hinterlässt. Ihre markante Stimme changiert zwischen Pathos und Wehmut, zwischen kecken Zwischentönen und milder Strenge.
Und wenn der Begleitmusiker und Produzent Bengt Hanssen seine kongeniale Stimme im Hintergrund ertönen lässt, bekommen diese Passagen einen beinahe hymnischen Charakter. Auf dem Livealbum „Die Reise“ (2007 erschienen) waren ihm deutlich mehr Gesangsanteile gegönnt. Nun steht ganz klar die Sängerin Kari Bremnes im Vordergrund. Das neue Album ist deutlich ruhiger, aber auch in sich geschlossener.
Die Künstlerin lässt sich beim Schreiben ihrer Lieder nicht nur von historischen Figuren oder dem rauen Klima, dem Meer und der Landschaft ihrer Heimat inspirieren, sondern auch von großen Vorbildern wie Bob Dylan. Ihre musikalischen Fantasien werden angeregt an einem Sommertag vom Duft der Blaubeeren und dem Wunsch, wie ein Adler fliegen zu können. Sie besingt die zwischenmenschlichen Wunder, die es möglich machen, dass sich urplötzlich zwei Menschen mit ganz anderen Augen sehen können, mit einem vorher nie dagewesenem Gefühl der Freude und Zärtlichkeit.
Und bei „Mann på rommet“ (Mann im Zimmer) beschreibt sie die (wie sie selbst findet) „erschreckende Geschichte“ einer Frau, die nach zahlreichen Liebesenttäuschungen einen Mann für sich sucht und findet, den sie im Zimmer einschließt und dort zu ihrem idealen Partner umzuerziehen trachtet. Und diese Frau sei tatsächlich optimistisch, was den Erfolg dieses Projektes anbelangt…Der Wert der Hoffnung wird im gleichnamigen Lied („Håpet“) beschworen. Hoffnung braucht nicht viel Platz, beansprucht nicht viel Platz und kann in jeder Hosentasche mit sich getragen werden. Kari Bremnes selbst kann durchaus als musikalische Hoffnungsmacherin aus dem hohen Norden gesehen, gehört und geschätzt werden.

Thomas Rüger

Kari Bremnes: Og så kom resten av livet (Strange Ways Records, 2012); circa 16 Euro

Film ab

Wer seine Art, Kino zu machen, nicht mag, wird sich diesen Streifen nicht ansehen, seine Fan-Gemeinde aber wird den Meister einmal mehr verehren ob seines cineastischen Könnens. Und das obwohl ein kompletter Genuss ein enzyklopädisches Filmwissen voraussetzte, über das auch der Rezensent nicht verfügt, um alle Verbeugungen des Regisseurs vor anderen Meistern dieses und anderer Genres sowie ihren Werken zu erkennen.
Zugleich ist Quentin Tarantinos „Django Unchained“ sein bisher politischster Film, und dass weiße amerikanische Kritiker ihm vorwerfen, die Geschichte der Sklaverei in den USA nur als Vorwand missbraucht zu haben, um Anleihen aus früheren Western aneinander und eine durchästhetisierte Brutalität an die andere zu reihen, ist nur zu gut verständlich: Auf großer Kinoleinwand ist die menschliche, respektive unmenschliche Dimension dieser – nächst dem Genozid an den nordamerikanischen Indianern – dunkelsten Seite der Frühgeschichte der USA noch nie so drastisch einem amerikanischen Publikum präsentiert worden, dessen Sichtweise auf die Sklavenhalteroberschicht der US-Südstaaten vor dem amerikanischen Bürgerkrieg jahrzehntelang durch das verlogen-verschnulzte Sentimentalopus „Vom Winde verweht“ geprägt wurde.
By the way: Wer Leonardo DiCaprio immer noch vor allem mit „Titanic“ assoziiert, der hat zwar zwischendurch manche Rolle des Mimen verschlafen, dürfte aber, sollte er wider Erwarten in diesen Film geraten, vom Glauben abfallen.
„Die Sklaverei“, so Tarantino, „war ein Holocaust – und zwar einer, der 245 Jahre andauert.“ Der Film zeigt, dass der Drehbuchautor und Regisseur das genau so meint, wie er es sagt. Und seine Bemerkung, dass Arthur Penns legendärer Streifen „Little big man“ von 1970, der die Ausrottung der Indianer zum Gegenstand hatte, für diesen Django „so etwas wie ein Bruder im Geist“ sei, ist sehr zutreffend.
Dabei gehört Tarantinos Mitgefühl eindeutig den Opfern, aber keineswegs einseitig nach „Onkel Toms Hütte“-Manier. Der Film zeigt vielmehr, dass neben den herrschenden Sklavenhaltern und ihren weißen Söldnern Kollaborateure aus den Reihen der Geknechteten ein ebenso abgrundtief übles Segment der damaligen amerikanischen Gesellschaft waren. In diesem Kontext – Samuel Jackson als Majordomus in seiner besten Rolle.
Aber natürlich ist der Film in erster Linie Kino, das unterhalten und dem Publikum für sein Eintrittsgeld etwas bieten will. Und das tut er – selbst für Kinobesucher, die das Original, den Spaghetti-Western „Django“ von Sergio Corbucci aus dem Jahre 1968 mit Franco Nero nicht kennen und daher nichts damit anfangen können, wenn der jetzige Django mit dem Ur-Django beim Whisky über Orthographie und Phonetik des Namens Django parliert. Als Hommage an sein deutsches Publikum darf man diesen Tarantino-Django übrigens auch interpretieren. Zwar ist Christoph Waltz Österreicher, aber sein intellektueller, zum (höchst sympathischen) Kopfgeldjäger mutierter Zahnarzt Dr. Schultz – die eigentliche Hauptrolle des Films – stammt aus Düsseldorf. Das Nibelungenlied spielt ebenso eine Rolle wie Beethovens „Pour Elise“. Letzteres übrigens in einer Szene, die über die Mentalität der damaligen Sklavenhalterkaste in den USA mehr aussagt, als deren Brutalität, mit deren Vorführung Tarantino nicht geizt. Und – last but not least – im Jahr 2012, als der Film in den USA anlief, also zum 100. Jahrestag der Auffindung der Büste der Nofretete durch deutsche Archäologen, fehlte selbst eine sentenzhafte Hommage an dieses Prunkstück der Ägyptischen Sammlung zu Berlin nicht – obwohl das im Jahre 1858, in dem der Film spielt, noch weitere 54 Jahre im Wüstensand von Teil el-Amarna auf seine Ausgrabung warten musste.

Clemens Fischer

Rollendes

Dumpf dröhnt es aus dem Unterirdischen, unter des Schläfers Bett, der sich träge noch zwei mal darin umwälzt. Es ist sechs Uhr morgens, Paletten voller Dosen, Tüten, Kisten, Flaschen rollen in den Discounter unter seiner Wohnung und wirbeln durch seinen letzten Traum, bevor er rüde erwacht: eine Kiste muss abgestürzt sein und ist mit einem lauten unverschämten Bumms auf knallhartem Beton gelandet.
In Deutschland hat die Rollsaison begonnen, schon seit Langem, spätestens seit dem Fall des Eisernen Vorhanges, der den Reisefreudigen die Tore zu manchen Gefilden versperrte. Reden wir nicht von den Rollerskaters, die, aus England und Amerika heran driftend, die Bühnen und Parketts, das ehemalige NSDAP-Reichstagsgelände in Nürnberg oder die schamlos öde Piazetta des Kulturforums in Berlin überschwemmen. Neben Mensch wird auch anderweitig auf Rollen befördert, was es eben zu befördern gilt, beispielsweise Ananas aus Costa Rica, Krimsekt, russischen Kaviar oder nur die Megapackung Waschmittel, Zement und Ziegelsteine, Ikea-Regale, Fertighäuser und so fort.
Wehe dem der, nicht rollt. Größter Beliebtheit erfreut sich seit diversen Jahren der Rollkoffer: er ist des Pendlers, Schichtarbeiters, Managers und Handelsreisenden, des Dauertouristen und Globetrotters liebstes Kind geworden, mit dem er den zu Hause gebliebenen Bürger foppt und schreckt. Denn Rollkoffer auf unebenem Terrain, wie es etwa Berlins Bepflasterung zu bieten hat, machen nicht nur einen höllischen Lärm, sondern behindern auch den öffentlichen Nahverkehr, je nach Größe blockieren sie Sitz- und Stehplätze in Bus und Bahn und behindern Vierbeiner beim Verrichten ihres Geschäftes, wenn sie nicht nur den Herr, sondern auch den Hund zu überfahren drohen. Rollkoffer in Aktion sind zudem Neiderzeuger, da sie beim Nichtreisenden die bohrende Frage aufrütteln, warum er jetzt im Büro sitzen muss, statt sich rollend in Richtung Kanarischer Inseln zu bewegen.
Rollkoffer gibt es mittlerweile aller Größen und Couleurs und sind, da leicht zu handhaben, auch für Kinder und Idioten geeignet. Vermutlich sind sie bei entsprechenden gesundheitlichen Handicaps wie Bandscheibenvorfall oder Burnout-Syndrom verschreibungs- und rezeptpflichtig oder von der Steuer absetzbar geworden, und sicherlich schiebt Frau Merkel bei ihren Besuchen in Frankreich, verborgen vor den Augen sensationsgieriger Kameras, ein kleines Rollköfferchen mit dem Notwendigsten neben sich her, um mit einem Negligé made in France Monsieur Hollande zu bezaubern, damit endlich die Wogen im deutsch-französischen Krieg wieder geglättet sind.
Ob Pilotenkoffer, Roll Trolley oder Global Carry On: der Mensch, nicht mehr geneigt, sein Gepäck selbst in die Hand zu nehmen, sonnt sich in Rollgelüsten, ohne daran zu denken, dass die Aufgabe der Räder früher von berufstätigen Lasten- und Gepäckträgern, gerne auch von Pferden, Kamelen und Eseln übernommen wurde. Unvergesslich Hans Moser in der Rolle des kofferschleppenden Dienstmannes, der schwarze Koffer aus „Pulp Fiction“ würde an Attraktion verlieren, wären an ihm zwei Räderchen montiert, und ein Rollkoffer in Samuel Becketts „Warten auf Godot“ würde das Stück komplett ruinieren. Doch weiter rollt er, der Rollkoffer. Schließlich führte auch Hartmut Mehdorn, Ex-Bahn- und -Airberlin-Chef, ein Leben aus dem Rollkoffer, ganz seinem Beruf entsprechend. Sollte er neuer Aufsichtsratvorsitzender beim neuen Berliner Flughafen BER werden, könnte er dieses Leben fortsetzen, ganz nach der Devise: „Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin“. Das sang Marlene Dietrich wehmütig in den 1950er Jahren. Lang ist’s her, ihr Koffer war wohl räderlos.

Angelika Leitzke