16. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2013

Unterarmgehhilfe. Nachrichten aus der Debattiermaschine (XVIII)

von Eckhard Mieder

Am zweiten Tag des Jahres begegnete ich einer Frau, die in Krücken ging. Rechts und links musste sie sich beim Gehen stützen. Weil ich sie nur aus gelegentlicher „Guten- Tag“- und-„Wie-geht’s?“-Plauderei auf der Straße kannte, fragte ich vorsichtig, ob ich sie fragen dürfte, was sie denn Übles hätte.
„Ach“, winkte sie ab, die eine Krücke anhebend und rasch wieder aufsetzend, weil die Balance gestört war und sie zu fallen drohte. „Diese Unterarmgehhilfen machen mich wütend! Ich bin so ungeduldig, wissen Sie!“ Eine Antwort auf meine Frage war das nicht, aber ein kurzer Blick in ihren mentalen Zustand wohl doch.
So kurz nach Weihnachten und Silvester jemanden zu treffen, die sonst trotz gehobenen Alters recht sportlich daherkommt – da kann alles Mögliche passiert sein. Ein Böller kann sie unglücklich getroffen haben. Eine Rutschpartie mit dem Auto endete mit Malaisen an Leib und Seele. Oder … ein Skiunfall!
Etwa kenne ich eine Dame, eine andere Dame, die sich die Schulter brach, als sie zum Ersturlaub des Jahres in den Alpen weilte. Sie brach sich den Knochen nicht während der Abfahrt, sondern davor. Als sie auf Skiern stand und dabei war, sich die Handschuhe überzuziehen und die wollene Mütze anmutig zu richten, rutschte sie weg und fiel. Das ist nicht lustig.
Mir schien, die Frau aus meiner Straße wollte nicht recht darüber sprechen. Auch wenn sie – quasi zur Seite – etwas von Hüfte und Bein und Operation flüsterte. Vielleicht war es ihr peinlich, so siech daherzukommen. Vielleicht gehört sie zu denjenigen Menschen, die es einigermaßen zum Kotzen finden, immerzu über Krankheit und Tod zu reden, wie es uns Älteren unterläuft, wenn wir uns über den Weg humpeln.
Auch mir war nicht unbedingt nach diesem Thema. Ich hatte erst vor zwei Wochen von der Leukämie eines Freundes und der Alzheimer-Erkrankung eines Bekannten erfahren, und ich meine, dass es ja auch noch den anderen Freund mit seinem Lungenkrebs gibt, nicht zu reden von dem Kameraden, der einen Gehirntumor hatte, und … Sie wissen schon: Die Einschläge werden dichter; der Tod gehört zum Leben; man muss es nehmen, wie es kommt; morgen ist auch noch ein Tag. Und so fort.
War das früher auch schon so? Wenn, dann kann’s nicht besser gewesen sein als heute, trotz Kaiser, Fünf-Pfennig-Schrippe und Wende.
„Wie heißen die Dinger?“, fragte ich dann. Ich wollte das Gespräch nicht unhöflich abbrechen. So ein Gespräch ist kein fauler Schüler, der nicht mehr zur Schule geht. So ein Gespräch ist nicht eine Salzstange und auch nicht ein Zweig an einem Strauch. Ein Gespräch darf nicht brechen wie ein Knochen.
„Unterarmgehhilfen“, antwortete sie.
„Echt?“ Das Wort hatte ich noch nie gehört, obwohl auch ich schon an Krücken ging und zwischen Krücken hing und auf dem Zahnfleisch lief und mitfühlen konnte.
Sie nickte und verzog das Gesicht vor Schmerzen.
Weil ich mich noch immer nicht auf unverbindlich-charmöses Plauschen verstehe, sagte ich: „Früher hießen die Dinger Krücken. Aber heute heißt es ja auch Senioren-Residenz und nicht Altersheim.“
Mir schien, es fiel ein Schatten auf ihr Gesicht. Ihre Augen gingen von mir weg. Die Frau mit den Stöcken reiste aus: aus dem Gespräch, dem ich eine Wendung ins Unaussprechliche (?) gegeben hatte, ins Bürgerlich-Gesicherte.
„Nun ja“, sagte sie schließlich leise. „Heutzutage. Wer möchte schon gern … so … Altersheim, das klingt …“
Blöd von mir, wirklich saublöd.
Natürlich klingt Altersheim nach dem Quietschen nicht geölter Rollstuhlräder. Natürlich klingt Altersheim nach Geschirrklappern und nach schnaufenden, ächzenden und hustenden Leibern. Und es riecht nach Windeln und Arzneien und nach Blumen, die stumm vor sich hin welken. Außerdem brauchen die Wände dringend einen Anstrich, und die Stühle vor dem einzigen Schwarz-Weiß-Fernsehgerät im Aufenthaltsraum stehen auf wackligen Beinen. Und wirklich sind Senioren-Residenzen mittlerweile sehr, sehr respektable Aufenthaltsorte für ältere Bürgerinnen und Bürger.
Ich fing an zu schwitzen; das behaupte ich jetzt mal, der Dramaturgie der Begegnung wegen.
Zudem gingen mir im Schnelldurchlauf Begriffe durch den Kopf, die ich Minuten vor der Begegnung mit der Nachbarin gelesen hatte. In der Jungen Welt: Dass von Entwaffnung salbadert wird, wenn Krieg gemeint ist. Dass Drohkulisse gleich Kriegsvorbereitung ist. Dass die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes bedeutet, Leute zu entlassen. Dass hinter der gestiegenen Verantwortung Deutschlands die gestiegene Bereitschaft zu militärischen Abenteuern steckt …
Wollte ich plötzlich einen Zusammenhang zwischen dem Sprachgebrauch des Dunkelmännertums und – einem orthopädischen Begriff konstruieren? So weit sollte selbst ich nicht gehen, auch auf zwei gesunden Beinen nicht.
Ich kriegte den Bogen, als ich die Frau fragte, wohin sie zu schreiten gedenke und ob ich, der ich mich gerade ins Auto setzen wollte, sie irgendwohin bringen könnte.
Ich kriegte den Bogen nicht, weil ich irgendeinen Bogen kriegen, sondern weil ich tatsächlich helfen wollte. (Mein Freund Johannes Tütenholz pflegt in seiner zuspitzenden Lyrik zu sagen: „Eines kannst du als Mensch nur sein:/Entweder bist du ein Schwein/Oder du bist/Altruist.“)
So fuhren wir dann gemeinsam zur Post – zufällig das gleiche Ziel –, und unterwegs entfiel mir ein H aus dem Wort Gehhilfe, und also hatte ich die Botschaft des neuen Jahres verstanden.