16. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2013

Madonnen

von Renate Hoffmann

Es gibt ihrer viele. Die schönste – sie sei es, so sagt man – wäre Madonna Sixtina. Damals glaubhaft die teuerste. Für 25.000 Scudi erwarb sie der Sächsische Hof. Das entsprach etwa den Baukosten vom Jagdschloss Moritzburg. Graf Brühl ließ während der schwierigen Verhandlungen zum Ankauf wissen, es käme auf ein paar Scudi mehr oder minder nicht an; aber nach Dresden müsse sie! – Eine Italienerin in Sachsen.
Nicht für die große Schau malte sie Raffaello Santi (1483-1520), der Künstler aus Urbino, für die Stille und Einkehr einer Klosterkirche war die Madonna bestimmt. Papst Julius II. hegte die Absicht, der Kirche San Sisto in der Stadt Piacenza ein Altarbild zu stiften. Raffael erhielt den Auftrag. Das geschah um die Zeit 1512/1513.
Wohlgestalt, Anmut und Innigkeit leuchten aus dem Gemälde, heute, wie vor fünfhundert Jahren. Man versteht, dass August III., sächsischer Kurfürst und polnischer König, von der Madonna Sixtina begeistert war. Möglicherweise sah er sie auf einer früheren Reise in den Süden. – Die angehimmelte Himmlische reiste auf einem Pferdefuhrwerk nach dem Norden.
Bevor sie 1956 ihren letztgültig angestammten Platz in der Dresdner Galerie „Alte Meister“ wieder einnahm, lagen noch verschiedene Wege hinter ihr. Im Siebenjährigen Krieg transportierte man Signora Sixtina zum Schutz auf die Festung Königstein. Ein überdachter Elbkahn brachte sie, nachdem die Gefahr vorüber war, nach Dresden zurück. Den letzten Weltkrieg überdauerte sie in einem Tunnel bei Pirna. Diesmal übernahm ein Lastkraftwagen den Transport. Als man die große Dame am Kriegsende nach Moskau überstellte, wäre sie beinahe auf dem Luftwege gereist. Marschall Iwan Konew bot dazu sein persönliches Flugzeug an. Eine russische Kunstwissenschaftlerin entsetzte sich: Die Sixtina im Flugzeug, wenn das schief ginge … Er benutze es doch auch, soll der Marschall mit Nachdruck betont haben. „Ja, Sie sind der Marschall, aber das ist die Madonna!“ – Sie fuhr mit der Bahn.
Als ich die auserwählte Schöne in Dresden besuchte, fand ich mich inmitten einer Schar von Bewunderern aus aller Welt. Ein Herr neben mir sagte: „Da hat er sich ein hübsches Mädchen als Modell genommen.“ – Man glaubt, das Vorbild zu kennen. In Raffaels Porträt der „Dame mit dem Schleier“ finden sich Bezüge zur Sixtina. Giorgio Vasari, des Malers erster bedeutender Biograf, beschreibt es als sehr schönes Bildnis der „Donna amata“, der geliebten Frau. Ob sie es war, der Raffael Sonette schrieb? „Liebe, du hast mich ins Garn gelockt mit zwei schönen Lichtern, / Zweier Augen, an denen ich mich quäle, und mit einem Glanze, / Aus weißem Schnee und lebendigen Rosen … “
Die Meinungen über die Jubilarin unterschieden sich. Der Spötter G.B. Shaw hielt die Dresdner Madonna für ein Abbild der idealen Amme, gesund, schön und völlig einfältig. Goethe hingegen meinte: „Das Bild allein ist eine Welt … und müsste seinen Schöpfer, hätte er auch nichts als dies gemalt, allein unsterblich machen.“
Welche Ruhe sie ausstrahlt, die Mädchenhafte, welche Zuversicht. Und doch liegt ein Anflug von Trauer in ihrem Blick, als trüge sie mit dem Kind auch die Leiden der Welt.
Madonnenbildnisse sind, neben der vordergründigen Spiritualität, hintergründig auch eine huldigende Geste an die weibliche Schönheit. Stefan Lochner, Leonardo da Vinci, Martin Schongauer, Matthias Grünewald, Peter Paul Rubens – viele Künstler vor und nach ihnen gaben Madonna Maria Gestalt und irdisch-überirdische Züge.
Sie schwebt auf der Mondsichel, sitzt im Rosenhag oder in der Felsengrotte. Die Beigaben unterstreichen oft ihre Lieblichkeit und benennen das Kunstwerk: Nelke und Veilchen, Granatapfel, Stieglitz und Spindel. Auch andere Merkmale preisen die Madonnen. Die mit dem blauen Schleier, oder die mit dem schmalen Hals.
Eine unter ihnen scheint mir die Originellste zu sein. Sie entstammt dem 11. Jahrhundert und ist aus Stein. Ich entdeckte sie auf einem Kapitell des gewaltigen Portalturmes der französischen Abtei Saint-Benoit-sur-Loire (Region Centre, Departement Loiret). Die Klosterkirche gilt als Meisterwerk der Romanik; in Jahrhunderten gewachsen, zerstört, geschändet, wiederbelebt. Sein hohes Bildungsniveau brachte dem Kloster in der Vergangenheit weit reichendes Ansehen – und die in der Krypta aufbewahrten Überreste des heiligen Benedikt einen nicht abreißenden Pilgerstrom.
Abt Gauzlin (1005-1030 am Ort wirkend), baufreudig und kunstbeflissen, hielt es für angemessen, den Reliquien Benedikts und der Einträglichkeit, den hoch aufragenden Vorhallenturm zu errichten. Unwillkürlich denkt man an den Turmbau zu Babel. Doch der Architektur lag ein anderes Konzept zugrunde. Es spielt an auf das „Himmlische Jerusalem“ aus der Offenbarung des Johannes (Kapitel 21 der Apokalypse). „Das heilige Jerusalem hatte zwölf Tore … von Osten drei Tore, von Norden drei Tore, von Süden drei Tore, von Westen drei Tore … und die Stadt liegt viereckig.“ Der quadratisch angelegte Turm folgt der Schrift. Zwölf Pfeilerbündel im Erdgeschoss öffnen den luftigen Raum nach vier Himmelsrichtungen. Der erzählende Figurenschmuck schildert biblische Begebenheiten.
Lebendigkeit der Szenen und ihre verblüffende Natürlichkeit schreibt man dem Bildhauer und Baumeister Unbertus zu. Eine Inschrift deutet darauf hin: UNBERTUS ME FECIT (Unbertus hat mich gemacht). Der Könner schuf auch das originelle Madonnen-Relief: Maria mitsamt ihrer Familie auf der Flucht nach Ägypten.
Sie trägt ein kostbares Gewand mit weiten Ärmeln und Stickereien. Sohn Jesus, lebhaft – wie Kinder so sind – will nicht stillsitzen und muss von der Mutter mit beiden Armen gehalten werden. Vater Josef führt das Reittier am Zügel. Ein Pferd. Seine Mähne ist fein ausgearbeitet und ebenso das reichgeschmückte Zaumzeug. Das Tier stellt die Ohren auf. Wahrscheinlich hat Josef ein anfeuerndes Wort gesprochen. Es setzt sich in Bewegung. Wahrscheinlich hat Josef zuvor auch seine Frau fürsorglich gefragt: Sitzt du gut, Maria? Natürlich sitzt sie gut und sicher und hat sich bereits zurecht geruckelt.
Maria schaut den Betrachter an. Unter ihrem verzierten Rocksaum lugen die Füße hervor. Und unter ihren Füßen steht ein Bänkchen, zum bequemen Auf- und Absteigen. Sicherlich vergaß Josef in der Eile, es beiseite zu räumen. Es wird wohl nun bis in alle Ewigkeit dort stehen. – Ich erlaube mir, diesem erheiternden Umstand eine heitere Bezeichnung zu verleihen: Madonna mit der Fußbank.