von Matthias Käther
Also die Leserinnen können gern weiterblättern zum nächsten Kollegen in diesem Heft. Es hat ja doch keinen Zweck. Frauen mögen aus irgendeinem unerfindlichen Grund Jules Verne nicht. Ist das wirklich Jungenssache: Kolportage, verknüpft mit Technikbegeisterung, Humor in Allianz mit Landschaftsbeschreibung?
Die Digitale Bibliothek, ein Projekt der Directmedia Publishing GmbH, hat jedenfalls einen alten Jugendtraum vieler Verne-Fans wahrgemacht: alles, aber auch alles von ihm lesen zu können! Pünktlich zum 100. Todestag gabt’s den ganzen Jules Verne auf CD-Rom. Da ist alles drauf, was je von ihm auf Deutsch erschienen ist. Inklusive … Oh, allein das »inklusive« aufzuzählen ist Genuß! Inklusive sämtlicher Originalillustrationen, einer verdienstvollen Zusammenstellung von zeitgenössischen Kritiken, dreier Verne-Abhandlungen der Jahrhundertwende und der Rowohlt-Monographie von Volker Dehs, dem besten deutschen Jules-Verne-Kenner.
Grundlage für die Digitalisierung war die berühmte 98bändige Hartleben-Prachtausgabe vom Ende des 19. Jahrhunderts, die gleich zwei Vorteile zu bieten hat: Sie bringt die Texte nahezu ungekürzt und in einer ansprechenden Übersetzung, die sich oft wohltuend von den modernen und gekrampften Aufputz-Versuchen unserer Tage abhebt. Der originale Verne-Ton besticht durch eine feine Ironie, ein Augenzwinkern, eine vibrierende Doppelbödigkeit: ein wisperndes »Naja, ihr wißt ja – alles nur Spiel«, und das hebt ihn ja erst von der dumpfen Trivialliteratur ab. Die gewissenhaften Neu-Übersetzer unterschlagen das meist. In neuen Büchern klingt immer alles sehr ernst. Karl May à la francaise gewissermaßen. Glätte wird erkauft mit Humorlosigkeit. Das glauben Sie nicht?
In der Diogenes-Übersetzung des Karpaten-Schlosses heißt es: »Heute, da sich das praktische und positive 19. Jahrhundert seinem Ende zuneigt, entstehen keine Legenden mehr…«
Bei Hartleben: »Heute, nahe dem Abschlusse des so praktischen, so positiven neunzehnten Jahrhunderts, entstehen übrigens keine Sagen mehr …« Sehen Sie’s zwinkern?
Oft wird’s in der Neuzeit sogar unerträglich. Das Resümee von »Zwei Jahre Ferien« lautet in der alten Übersetzung, leicht onkelhaft: »Bei regem Ordnungssinn, Eifer und Muth gibt es keine noch so gefährliche Lebenslage, aus der man sich nicht zu befreien vermöchte«.
Erstaunlich, was Diogenes daraus macht. Eine Art Leitfaden für junge Offiziere: »Man muß sich zusammenreißen, Ordnung halten und sich auf die andern einstellen, wenn man überleben will…« Puh!
Diese alten wunderbaren Fassungen sind also wieder zu haben, plus der wenigen Romane und Erzählungen, die später erst hinzukamen; man findet auf der Scheibe sogar das aufregende, erst vor wenigen Jahren gefundene Manuskript von Paris im 20. Jahrhundert des jungen Verne. Und als wäre das nicht genug – es sind auch alle Bücher mit aufgenommen, die von, heute würden wir sagen, Ghost-Writern unter Vernes Namen verfaßt wurden, wie die Sachbücher zur Entdeckung der Erde oder der spannende Roman Expedition Barsac, der nur in Teilen von Jules stammt, der Rest wurde vom Sohn Michel geschrieben. Man muß schweren Herzens zugeben, daß dieser falsche Verne zu den besten gehört. Aber wie sagte Dumas senior so schön, als nach der Herausgabe der Kameliendame von Dumas junior jemand fragte: »Na, da ist doch bestimmt einiges von Ihnen mit dabei, oder«? – »Gewiß – der Verfasser!«
Herausgegeben wurde dieses unerhörte Projekt, dieses Lesefest von Wolfgang Thadewald, und da hört die Feststimmung leider auf. Wenn Herr Thadewald die Idee dazu hatte, vielleicht auch die exzellente Rezensionssammlung erstellt hat, mag das mehr als ein Schulterklopfen verdienen, aber bedauerlicherweise schreibt Herr Thadewald ein so schauerliches Deutsch, daß man hofft, seine Zeilen mögen sich niemals aus der Sphäre des Digitalen in die konkrete Druckwelt verirren. »Der oft getroffenen schlichten, aber treffenden Feststellung, in Jules Vernes Romanen komme einfach alles vor, was interessant sei, läßt sich als Beispiel von einfallsreicher und humorvoller Darstellung ein kurzer, aber mit Schmunzeln zu lesender Text zur Handlung von Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer aus dem 19. Jahrhundert gegenüberstellen.« In diesem Stil, vierundsiebzig Seiten lang. So schreiben Hobby-Briefmarkensammler über ihre Lieblingsobjekte in kleinen Sammlerforen, es ist eine seriös sein sollende Doziererei, so als ob Zehnjährige »Professor« spielen. Aber wo er doch so ein großer Verne-Spezi ist! Na gut – laßt ihn, solange er solche Sachen herausgibt. Nur hätte er es eben stumm tun sollen. Oder könnte nicht Volker Dehs seine Sachen ins Deutsche … Schon gut, ich geb’ Ruhe.
Nun kann es also beginnen, das Wiedersehen mit den Lieblingsbüchern der Jugendzeit! Man reist wieder zum Mittelpunkt der Erde und um den Mond, in achtzig Tagen um die Welt oder 20000 Meilen unter dem Meer … Und Nemo ist, wie es sich gehört in jener besten aller Welten, kein kleiner dämlicher Fisch, sondern wieder ein großer dämonischer Kapitän. Und viel neues gibt’s auch zu entdecken.
An die neue Form des Genusses müssen wir alten Vernianer uns allerdings noch gewöhnen. Ich lese am liebsten im Bett. Gar nicht so einfach mit dem Notebook. Entweder es lastet alphaft auf der Brust, oder das Kabel reicht nicht, wenn man sich nach links dreht, und an der spannendsten Stelle geht das Ding aus. Oder beim virtuellen Umblättern flutscht man versehentlich vom Mond in die Karpaten. Aber da müssen wir durch, schon dem Autor zuliebe. Denn: daß alle seine Romane in einer leise summenden Maschine stecken und auf Knopfdruck abrufbar sind – das hätte Jules Verne gefallen.
Jules Verne: Das erzählerische Werk, herausgegeben von Wolfgang Thadewald, 39000 Seiten, Digitale Bibliothek, directmedia publishing GmbH, Berlin 2005, 45 Euro; Systemvoraussetzungen: PC ab 486, MS Windows oder MAC ab MacOS
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