von Wladislaw Hedeler, Karaganda
Unter dieser Postfachnummer war jahrelang das Besserungsarbeitslager in der Nähe von Karaganda in Kasachstan zu erreichen. Vor 45 Jahren fand die letzte Parteikonferenz der Organisation der KPdSU des Anfang der dreißiger Jahre eingerichteten Karlag statt.
Der von ständigen Umstrukturierungen begleitete Auflösungsprozeß zog sich mehrere Jahre hin. In den dreißig Jahren seiner Existenz schufteten hier über 800000 Häftlinge. Während der Kollektivierung, in den Jahren des Großen Terrors und in der Nachkriegszeit riß der Strom der zur Zwangsarbeit Verurteilten nicht ab. Die Spuren ihrer Arbeit sind noch zu sehen.
Riesige, von Windschutzstreifen geschützte Felder, ein weitverzweigtes Bewässerungssystem, Siedlungen, Fabriken und Kohlegruben. Doch die Äcker versteppen, die Baumreihen sind gelichtet, die Kanäle verrotten. Wer die Region verlassen konnte, ging fort. So war es bis zum Zusammenbruch der UdSSR. Dennoch sind viele der einstigen Häftlinge nach der Auflösung des Karlag in der Region geblieben. Einige Frauen und Männer, die in den vierziger Jahren unter erfundenen Anschuldigungen in der Ukraine, Weißrußland und in den baltischen Republiken verhaftet und zu Zwangsarbeit verurteilt wurden, haben wir während unserer Recherchen vor Ort angetroffen. So war es auch in diesem Jahr. Zwei der uns bekannten Frauen trafen wir nicht mehr an, sie sind vor einigen Monaten verstorben.
Vor ihren Katen liegt heute Spielzeug. Die neuen Mieter, die wir aufsuchten und um Auskunft baten, teilten uns die traurige Nachricht mit. Mehr können sie nicht tun. Jedes Jahr werden es weniger, die uns ihre Geschichte erzählen können.
Am 31. Mai, dem Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressalien in Kasachstan, fanden sich Angehörige von Häftlingen und Überlebende des Lagers sowie Mitglieder der Gemeindeverwaltungen von Dolinka und Schachtinsk auf dem Friedhof in der Nähe von Dolinka zu einer Kundgebung zusammen. Hier befand sich früher die Zentrale Verwaltung des Karagandinsker Besserungsarbeitslagers. Die Ansprachen auf dem umfriedeten Gelände sind kurz, der Wind ist frisch und der Regen heftig. Wer hierherkommt, kennt den Inhalt der Reden.
In den vergangenen Jahren hat auf dem kleinen Friedhof die Zahl der Grabsteine zugenommen. Inzwischen ist jede Konfession vertreten. Doch der Friedhof, auf dem zwischen 1930 und 1940 im Karlag umgekommene Nonnen und Kinder ihre letzte Ruhe fanden, ist gleichzeitig ein symbolischer Ort, denn die meisten Opfer wurden nicht hier beigesetzt, sondern irgendwo in der Steppe oder an den Feldrainen verscharrt. Das Tor ist intakt, das Gelände ist gepflegt, früher weidete hier – die Tränke war nicht weit entfernt – das Vieh. Allerdings fehlen schon einige der Zaunsegmente, Altmetall läßt sich immer gut verkaufen. Auch die Holztafel am Tor ist verschwunden. Fast hundert Personen waren es in diesem Jahr, die den Weg nach Dolinka fanden.
Vielleicht kann im nächsten Jahr die Gedenkfeier mit einem Museumsbesuch verbunden werden. Seit drei Jahren wird einer der Flügel des ehemaligen Zentralen Krankenhauses des Karlag zum Museum um- und ausgebaut. Während das Gebäude der Zentralen Lagerverwaltung nach und nach verfällt, ist der Krankenhausflügel verputzt, hat ein neues Dach und eine neue Zwischendecke. Am Ortseingang findet sich sogar ein Hinweis auf das Museum in Gründung.
Vorerst sind die Exponate der künftigen Ausstellung in der Bibliothek des Krankenhauses untergebracht. Es fehlt an Geld. Doch die Direktorin hofft auf den baldigen Umzug und zeigt die inzwischen gesammelten und erhaltenen Zeitdokumente und Fotos. Ehemalige Häftlinge und Mitarbeiter des Lagers haben sie hier zur Verwahrung abgegeben. Wir versprechen wiederzukommen und dem Museum unser Buch über die Geschichte des Lagers, seiner Häftlinge und der Bewacher zu übergeben.
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