Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 20. Juni 2005, Heft 13

Vor dem Tag danach

von Stefan Bollinger

Eines muß man dem Kanzler lassen: Er hat Sinn für das Dramatische. Sein Paukenschlag, Neuwahlen anzustreben, hat die dumpfe Bundesrepublik in Hektik versetzt. Das ist bemerkenswert, denn zu wählen wird es wenig geben. In Deutschland hat sich die neoliberale Politik durchgesetzt. Es geht zwar die Mär von der Krise des Landes, die aber seltsamerweise um die Profite der Großunternehmen und Banken einen Bogen macht, auch nicht für knapp 800000 Einkommensmillionäre zutreffen muß. Nun ja, die Profite könnten höher sein. Fünf Millionen offiziell verzeichnete Arbeitslose und zwei bis drei Millionen im Statistikdunkel stören ein wenig. Immerhin, das Volk ist unzufrieden. So hatten sie sich sozialdemokratische Regierungsheiligkeit mit grünen Tupfern nicht vorgestellt. Dosenpfand und Kernkraftausstieg sind nicht schlecht, Ganztagsschulen sind ebenso erfreulich wie Vergünstigungen für Familien. Nur, das »S« für sozial wurde spätestens mit Hartz und Rürup fröhlich entsorgt. Jetzt stören nur noch die Gewerkschaften, der Kündigungsschutz, die Mitbestimmung und die Flächentarife.
Außenpolitisch brachte Rosa-Grün Deutschland immerhin wieder zur Weltgeltung. Deutsche Soldaten auf dem Balkan und am Hindukusch schützen unsere Freiheit. Das hätten Kohl und Volker Rühe wohl nie hinbekommen – wegen des geballten Protestes der pazifistischen Linken.
Ach ja, die Linke. SPD, Grüne, Gewerkschaften haben da Gedächtnisverlust, vielleicht total. 2002 gelang der SPD gemeinsam mit einer fahrig-vorausseilend gehorsamen PDS-Führung der Coup, die etwas radikalere Linke bis auf zwei aufrechte Frauen aus dem Bundestag rauszuhalten.
Das war gut so, denn die netten Linkssozialisten waren schon tief in den Macht- und Papiermühlen des Parlamentsalltags aufgesogen, die Erinnerung an politischen Kampf und Basis verblaßt, dafür konnte man sich über Gesetzesideen freuen – vielleicht tauchte ja ein Halbsatz bei der Konkurrenz auf.
Schröders Befreiungsschlag sollte wohl die Schwarzen aus dem Tritt bringen, die sich aber unter bewährter FDJ-Ägide schneller zur Ordnung finden, als dies der SPD lieb sein kann. Weiteres Hakeln ist nicht ausgeschlossen, und mancher in der CDU/CSU meint sicher, so schnell an die Regierung zu wollen, sei ob der noch nicht total neoliberalen Zurichtung der BRD keine so gute Idee.
Hinzu kommt, daß Genosse Trend von allen guten Geistern verlassen scheint: So geht es nicht weiter, die Regierung muß in die Wüste geschickt werden. Rüttgers frohe Botschaft, daß die CDU die neue Arbeiterpartei sei, beweist leider einmal mehr die Richtigkeit des alten Spruchs von den Kälbern, die wählen gehen. Übrigens auch die Opfer des ALG II. Kurzfristige Vorteile und der Irrglaube, daß die »Wirtschaftspartei« besser sei als die Partei mit dem »Genossen der Bosse« an der Spitze, verkleistern den Blick. Der sähe, bliebe er klar, zwei fast gleiche Brüder mit neoliberalen Kappen, wobei die Erwartung nicht völlig falsch sein dürfte, daß die Volkspartei CDU/CSU mindestens so populistisch sein kann wie die machtversessenen Genossen.
Zurück zu unseren Linken. Die hat es härter getroffen als die Schwarzen. Denn sie müssen vor der Zeit den Blick von gerade geschriebenen Memoiren und den Buchlesungspodien, auch von notwendiger Rekonvaleszenz heben. Die Zeit seit der bitteren Niederlage hatten manche der PDS-Politiker zur Suche nach neuer Beschäftigung genutzt, oft jedoch weniger zum Nachdenken und Mobilisieren. Brachte der vergangene Sommer noch wilde Anti-Hartz-Proteste, wo sich auch PDSler sehr engagierten, war jetzt eher Ruhe angesagt. Nun also Hals über Kopf sich neu orientieren, wissend, daß es bei erneutem Scheitern für ein bundespolitisches Comeback schwieriger denn je wird.
Da geistern zwei der schlagfertigsten Talkgäste des Landes auf einmal wieder fröhlich durch die Kulissen. Begnadete Redner mit politischen Erfahrungen und Verdiensten, aber auch Individualisten, die ihren eigenen Haufen auch schon mal sang- und klanglos im Stich lassen, wenn sie die Nase berechtigt oder unberechtigt voll haben. Und die beiden sollen ein neues Linksbündnis garantieren, das sich schon an der Unverträglichkeit der Partner schwer tut. An den Programmdokumenten liegt es kaum. Beim Kampf um einen sozial wie demokratisch gezähmten, friedvolleren Kapitalismus als Nahziel können sicher alle mitgehen. Vielleicht vergessen dabei einige, daß gerade die Arzt-Rolle am Krankenbett des Kapitalismus nur dann gelingen kann, wenn Massen auf die Straße gehen, radikaler sind, Forderungen aufstellen und linke Politiker gedrängt werden und sich drängen lassen.
Die Brüche in der politischen Kultur sind zwischen PDS und WASG erheblich – es sind Unterschiede in der Linken, und die gehen meist miteinander viel schlimmer um als mit dem Klassenfeind.
Von dem sollte man nach fünfzehn Jahren Abstinenz im Klassenkampf auch mal wieder reden. Hier haben die Linkssozialisten das größere Problem. Denn die WASGler zeigen gern auf die PDS in Berlin und Schwerin, die den Juniorpartner der SPD bei der Exekution von deren Reformen gibt und mühselig links gegenzusteuern sucht, wenn sie nicht gerade im Interesse des Koalitionsfriedens Kröten schluckt. Die WASGler vergessen dabei leicht die eigene langjährige SPD- und DGB-Vergangenheit. Angepaßtsein – keine Spur!?
Während diese Zeilen geschrieben werden, scheint es, daß eine wie auch immer geartete gemeinsame Linkskonstruktion zur Wahl antreten kann. Streit um Namen und Charakter läßt Schlimmes ahnen. Spannend wird es erst am 19. September, dem Tag danach, wenn denn gewählt worden ist.
Aber ob Köhler der Linken das Geschenk eines siechen Kanzlers machen wird, der ihnen Zeit zum gegenseitigen Finden läßt – oder zum ewigen Streit? Die Galionsfiguren kennen wir, Eckpunkte einer Alternativstrategie liegen nahe: Hartz IV muß weg, öffentliche Arbeiten her, Steuern für die Reichen rauf, soziale Sicherungssysteme paritätisch erhalten bleiben, die Bundeswehr muß eine Armee des Friedens werden.
Aber ob Oskar und Gregor den Sack Flöhe hüten können, ob man sich auf eine wirklich gemeinsame Politik einigen kann, Pfründe zwischen großen und kleinen Parteien und Genossen gerecht zu verteilen vermag, gar eine gemeinsame theoretische Arbeit der Linken hinbekommt – alles bleibt offen. Wie auch immer, es wird auf den Oppositionsbänken eng werden. Ob die SPD-Genossen die Chance zu linker Wiedergeburt zumindest partiell nutzen werden, bleibt offen und ist doch zu hoffen. Spannend ist, ob es wie vor 1998 zu einem »Crossover« zwischen der neuen Linksformation und geläuterten oppositionellen Sozis und Grünen käme – und wenn, ob die mit ihren frischen »Verrätern« von der einstigen WASG zurechtkämen.
Kommt es am 18. September zur Wahl, wird es spannend im Land – aber nicht besser, nicht sozialer. Es bleibt der kleine Funke Hoffnung auf eine geläuterte Linke.