von Erhard Weinholz
Die fünfziger Jahre waren eine bewegte Zeit, nicht nur in politischer Hinsicht. Auch im Alltag änderte sich vieles, hier oft zum besseren: Die HO-Preise sanken, die Rationierungen wurden abgeschafft, das Angebot in den Läden wurde breiter. Allerdings wechselten sie häufig ihren Standort: Wo gestern Schuhe verkauft wurden, gab es heute Kindertextilien, im Textilienladen dafür Schreibwaren, Schuhe wiederum im vormaligen Schreibwarengeschäft. So las ich es jedenfalls bei Lothar Kusche (vielleicht hat er ein bißchen übertrieben). Später stabilisierten sich auch diese Verhältnisse, erstarrten geradezu – in den späten Achtzigern wurde kaum noch ein Laden eröffnet, selten einer geschlossen –, bis die Währungsunion sie erneut zum Tanzen brachte. Ich ärgere mich noch heute, daß ich versäumt habe zu notieren, welche Läden auf meiner Seite der Berliner Dimitroffstraße zwischen der Greifswalder und der Bötzowstraße in den Jahren darauf neu eingerichtet wurden und, oft nach kurzer Zeit, wieder verschwanden.
Es war eine eher ladenarme Gegend, in die ich da im Februar 1988 gezogen war: An der einen Ecke, Nummer 120, die Gaststätte Willy Bresch, an der anderen, Nummer 156, der Postzeitungsvertrieb, dazwischen ein Obst- und Gemüseladen, ein Privatgeschäft für Schmuck und Uhren und die in ganz Berlin/Ost bekannte Bastlerquelle. »Die Bastlerquelle Inh.: Heinz Langer Radio, Phono, Elektronik, Spez. Einzelteile, Bastlerbedarf, Modellbahnen Berlin NO 55 Dimitroffstr. 128«, so steht es auf einer Visitenkarte, die ich in einem Nachlaß fand – NO 55 hieß das zuständige Postamt bis zum September 64. Die meisten Ladenlokale standen inzwischen leer. In einem war etliche Jahre ein Klub der Werktätigen untergebracht, der aber zu meiner Zeit schon nicht mehr existierte, in einem anderen hatte sich, wie im Sommer 90 in der Ost-taz zu lesen war, die Stasi eingenistet. Es gab ja viel zu bespitzeln, zu zersetzen im Prenzlauer Berg.
Die Bastlerquelle hielt sich bis zur Jahrtausendwende, der Obst- und Gemüseladen hingegen machte bald nach dem 1. Juni 1990 dicht. Seine Räume blieben nicht lange leer, und auch in den Nebenhäusern gingen im Erdgeschoß die Jalousien hoch. Es siedelten sich an: ein vietnamesischer Lebensmittelhandel, der heute noch existiert, ein handtuchschmaler Laden für Badetextilien – zur Eröffnung wurde, ich sah es im Vorübergehen, mit Sekt angestoßen –, die Filiale einer längst verschwundenen Ladenkette, in der allerlei orientalischer Schnickschnack angeboten wurde, ein Papierwarengeschäft, dessen Betreiber so der Arbeitslosigkeit hatte entgehen wollen, eine große Buchhandlung, die vom Wohngebiet am Thälmannpark hierher verlagert worden war, nun aber schlechter lief als zuvor, und ein Getränkeverkauf, worin sich ein intellektuell wirkender älterer Herr betätigte, der leider nicht rechnen konnte. Nach sechs Wochen ließ er die Ladentür zu.
Einmal nur sah ich ein Geschäft, das nach noch kürzerer Zeit aufgegeben wurde: In der Einbecker Straße, nahe beim Bahnhof Lichtenberg, wo ich vor Jahren des öfteren unterwegs war, saß eines Tages in einem großen Ladenraum ein Vietnamese und verkaufte Grünzeug und Obst. Das geringe Angebot hatte er auf ein paar umgestülpten Kisten ausgebreitet. Alles war sehr billig. Als ich am übernächsten Tag dort erneut einkaufen wollte, fand ich ihn schon nicht mehr. Die Sache blieb mir rätselhaft.
Was hatte es noch gegeben in meiner damaligen Wohngegend? An einen Laden für Lederwaren erinnere ich mich, den auch die Kombination mit einer Wäscheannahme nicht vor dem Ende rettete, einen für Kinderbekleidung, einen für Untertrikotagen. Irgendwann stand dort ein Schild im Schaufenster: »Wir ziehen um … 20 % Rabatt«. Mein Unterwäschebestand war stark geschrumpft; nun profitierte ich von fremdem Pech. Ansonsten wäre ich wohl ins Warenhaus am Alex gegangen. Plakatgroße Ankündigungen »Wir schließen! Alles muß raus!! Waaahnsinnspreissenkung!!!«, die zudem monatelang am gleichen Ort hängen, stimmen mich hingegen mißtrauisch: Ist die Schließung vielleicht vorgetäuscht, sind da nur Pseudo-Schnäppchen zu holen? Die meisten Läden in meinem Dreh schlossen in aller Stille. Daß in der Farben- und Tapetenhandlung nichts mehr verkauft wurde, merkte ich erst, als ich entsprechenden Bedarf hatte. »Ist schon ’n paar Monate her«, hieß es im Laden nebenan. Die Regale waren nach wie vor voll. Einmal hatte es gleich um die Ecke, in der Bötzowstraße, eine getarnte Schließung gegeben: Das Schild »Wir machen Urlaub« hing noch in der Tür der kleinen Fleischerei, als der Urlaub längst hätte vorbei sein müssen, hing sogar noch, als der Laden leergeräumt war. Später bot jemand an gleicher Stelle regionale Wurstspezialitäten an. Doch meine gelegentlichen Mitleidskäufe hatten ihm nicht helfen können, er scheiterte ebenfalls.
Ende der neunziger Jahre, die Dimi hieß inzwischen Danziger Straße, zog ich nach Pankow, drei Jahre darauf zurück ins nahe der Danziger gelegene Bötzowviertel. Auch hier ist die Ladenlandschaft im Wandel begriffen. Derzeit wird vorwiegend eröffnet. Nach vielen Mühen ist es den Eigentümern unseres Hauses vor ein paar Wochen gelungen, die Räume im Parterre an einen Tierfutterhandel zu vermieten. Anfängliche Befürchtungen, der Inhaber würde nebenbei eine Bellschule betreiben, haben sich zum Glück nicht bewahrheitet. Seine beiden Hunde mußten sich nur erst an die neue Umgebung gewöhnen – zuvor hatte er im Friedrichshain sein Glück versucht. Ob er es mit seinen nicht sonderlich exklusiven Produkten in unserer stillen Seitenstraße findet, ist fraglich.
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