Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 14. März 2005, Heft 6

Bildungsbürger

von Jörn Schütrumpf

Nach dem Davonjagen der SED-Bürokratie wärmte manch Ostlinker sein geschundenes Herz an jenen Teufeln, die einst dieser Bürokratie ein Graus gewesen waren – unter anderem und zu Recht an Leo Kofler, Ernst Bloch, Wolfgang Harich, Gerhard Zwerenz, Fritz Behrens, Gunther Kohlmey, Herbert Sandberg, Fritz Klein, Hermann Klenner, Uwe-Jens Heuer, Hans Mayer, Robert Havemann und Rudolf Bahro.
Damit wurde allerdings auch eine neue Legende in die Welt gesetzt: Allzu schnell wurden diese Marx-Anhänger, Marxisten und zum Teil auch zeitweiligen Marxisten-Leninisten nun zu den einzigen humanistischen Denkern verklärt, die es nach 1945 im Osten gegeben habe. Günter Wirth, der vor nicht langer Zeit 75 Jahre alt gewordene Grenzgänger zwischen Kirchengeschichte, Germanistik, Philosophie, Theologie und Politik, hat solcher Sicht jetzt vornehm und – wie es seine Art ist – völlig unpolemisch widersprochen, und zwar mit einem »abseitigen« Gegenstand: der längst aller öffentlichen Erinnerung entschwundenen, vor einhundert Jahren in Halle/Saale gegründeten Kantgesellschaft, deren Vorsitzender Arthur Liebert (Jahrgang 1878) gewesen ist.
Wie die Goethegesellschaft war auch die Kantgesellschaft eine Großorganisation; ihr fühlten sich etwa sechzig Orts- und Landesgruppen nicht nur in Deutschland, sondern auch im deutschsprachigen Ausland und in Übersee zugehörig. Tausende Mitglieder aller Konfessionen – aber auch verschiedenster Konfessionslosigkeiten, die nur allzu gern über den gleichen Leisten geschlagen werden – versammelten sich vor allem nach dem Ersten Weltkrieg regelmäßig an kulturvollen Orten, um einer gemeinsamen Leidenschaft zu frönen: der aufklärungsbetonten Philosophie. So etwas gelingt heute bestenfalls noch den Philatelisten – womit nichts gegen die Philatelie, aber viel über die Philosophie und das aufklärungsbewahrende, manchmal sicher auch nur aufklärungskonservierende deutsche Bildungsbürgertum ausgesagt ist: Günter Wirth berichtet über eine Welt von gestern.
Er leuchtet in sie hinein, zeigt uns die Perlen, vergißt aber auch den Talmi nicht. Ihm fehlt halt einfach die Fähigkeit zu den – heute als guter Ton – gepflegten falschen Tönen. Letztlich beschreibt Wirth – ohne es so zu sagen, denn damit verließe er sein Metier – zwei Brüche, genau genommen einen doppelten Bruch: den von 1933 und den von 1948. Mit der Machtübergabe an die Nazifaschisten endete nicht nur die deutsche Arbeiterbewegung eines Lassalle und einer Rosa Luxemburg; der 30. Januar 1933 markierte auch den Sieg der schlagenden Verbindungen über das freimauernde Bildungsbürgertum deutscher Staatsangehörigkeit. Still starb der Citoyen, der es in Deutschland aus dem Larvenstadium ohnehin nur bis in die Verpuppung gebracht hatte und dem es nie vergönnt gewesen war, sich zum freien Schmetterling auszubilden.
Wirths Zentralfigur, Arthur Liebert, Professor der Philosophie an der Berliner Lindenuniversität und als Vorsitzender der Kantgesellschaft deren Kopf und Antrieb in einem, stand für die vergleichsweise wenigen deutschen Bildungsbürger – unter ihnen Heinrich Mann, Hellmuth von Gerlach, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky –, die die Nazis so ernst nahmen, daß sie ihnen nach dem Leben trachteten. Auch Liebert mußte ins Exil flüchten, erst nach Belgrad, wo er eine Nachfolgegesellschaft der Kantgesellschaft namens Philosophia schuf, dann nach London.
Männer wie Liebert sahen nach 1945 im Osten Deutschlands wegen der geistes- und kulturfreundlichen Politik der sowjetischen Besatzungsmacht deutlich günstigere Chancen für einen nachfaschistischen Humanismus in Deutschland als im Westen. Auch Liebert kam also zurück nach Berlin und erhielt erneut eine Professur. Die Philosophische Gesellschaft, die zumindest im Rahmen des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands als Nachfolgerin der Kantgesellschaft zugelassen wurde, entstand dank seiner Initiative.
Doch schon 1948 wurde Humanismus neu definiert und die Philosophische Gesellschaft aufgelöst. Humanistisch gesinnte Bildungsbürger, die auf gleicher Augenhöhe zu handeln begehrten, konnten wählen zwischen privilegierter Unterwerfung oder Abwanderung in die Restauration der schlagenden Verbindungen, denen ihr Bündnis mit den Nazis alles andere als geschadet hatte. Arthur Liebert blieb zumindest das erspart: Er starb bald nach seiner Rückkehr noch im Jahre 1946.

Günter Wirth: Auf dem »Turnierplatz« der geistigen Auseinandersetzungen. Arthur Liebert und die Kantgesellschaft (1918-1948/49), Ludwigsfelder Verlagshaus, 139 Seiten, 10 Euro