Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 14. Februar 2005, Heft 4

Filmdepression und ein Gegengift

von Detlef Kannapin

Wer erinnert sich an einen wirklich guten Film aus den vergangenen Jahren? Ich meine einen Film, der sowohl den Ernst des Lebens reflektiert als auch vom dramaturgischen und bildlichen Standpunkt zum Verständnis unserer Tage beiträgt. Ginge es nach dem herrschenden Feuilleton und der darin befindlichen Melange, so lebten wir bereits wieder im kritischen Zeitalter. Die Phase der Ratlosigkeit sei vorbei, die Filmproduzenten wagten wieder etwas, die Zuschauer gingen trotz der sozialen Malaise ins Kino und die Inhalte erst … Ja, die Inhalte. Sie sind wie alles von heute natürlich auf der Höhe der Zeit. Aber welche Höhe ist gemeint?
Rekapitulieren wir die Filme, die von der Kritik einmütig als herausragende Beispiele perfekter Filmkunst angepriesen worden sind. Unvermeidlich dabei Good Bye, Lenin! Tatsächlich glaubten viele Kritiker und danach vermutlich auch viele Kinoseher, daß es sich hier um ein authentisches DDR-Porträt handelt. Da fiel die extreme Verlogenheit und eine bis zum Kitsch reichende Destruktivität über ein vergangenes Land gar nicht mehr auf. Oder Gegen die Wand, Goldener Bär auf der Berlinale 2004, Kassenerfolg und so weiter. Ein Film, der etwa 105 Minuten zu lang und so weit weg von einer irgendwie nachvollziehbaren Realität ist, daß es mehr als schwerfallen muß, die rein individualistisch motivierte Orgie an Mord- und Selbstmordversuchen mit einer halbwegs annehmbaren gesellschaftlichen Motivation zu belegen.
Hierzulande sind außerdem alle Filme von Lars von Trier, zuletzt Dogville, und von Pedro Almodóvar, zuletzt Schlechte Erziehung, für den Kritikerstamm Heimspiele und Hausbänke für den Jubelsturm der Begeisterung. Während von Trier mit äußerster Interesselosigkeit für seine Stoffe und Figuren dem Publikum distanzlos seinen eigenen Blickwinkel und sein verheerendes Filmbild brutal aufnötigt, ist Almodóvar regelrecht besessen vom Manierismus seiner Außenseiterprotagonisten und schwülen Halbweltgeschichtchen. Jedes filmisch entzückende Element wird von den Filmschreibern immer öfter zu einem Paragraphen aus Hegels Phänomenologie des Geistes hochgesprochen.
Einige Bauschmerzen hatten die Zeitungen dann selbstredend mit dem Hitler-Machwerk Der Untergang, was aber auch leicht zu handhaben war, denn das Reizthema Adolf ist nicht ohne Distanz zu positivieren. Immerhin zeigten danach die französischen Blätter Größe, als sie zur Frankreich-Premiere des Films schrieben, Bruno Ganz sei als Hitler »so überzeugend wie eine Klobürste« und Deutschland erscheine darin »als Opfer der Nazis«. Auch von Die fetten Jahre sind vorbei ist nicht viel zu erwarten. Wieder überschlugen sich die Kulturseiten, wieder ist die herbeigefilmte Konfrontation von Alt-Linken West und den sogenannten Neu-Linken Gesamt nichts weiter als die Konfektionsware, in der sich das Publikum offenbar wohlfühlt.
Apropos links. Freundliche und kontroverse Filme wie das gelungene spanische Arbeitslosendrama Montags in der Sonne oder die innovative Selbstjustizphantasie Muxmäuschenstill erhielten in den Kritikerspalten weniger Raum.
Es dürfte nicht an den Filmen selbst liegen. Die Filmdepression geht eher von den zum Teil schwachbrüstigen, zum Teil ignoranten Filmjournalisten aus. Filmkritisches Grundmaß, eine klare Sprache und die Vorstellungen von einem gesellschaftlich verantwortlichen Film sind verlorengegangen. Man könnte als Ursache das klassische Argument des Berufs- und Bezahlschreibers anführen, aber meines Erachtens steckt das Problem tiefer. Sozial fehlt die Idee der Emanzipation, filmimmanent basiert der Verlust des Engagements auf der Verschüttung früherer filmischer Möglichkeiten.
So war die Filmveröffentlichung des Jahres 2004 auch kein Film, sondern ein Buch. Genau genommen sind es drei Teilbände der Werke Band 6 von Siegfried Kracauer, dem wohl bedeutendsten Filmkritiker der Weimarer Republik. Mitte vorigen Jahres vom Suhrkamp Verlag herausgebracht, versammeln sie alle Kritiken Kracauers zum Film von 1921 bis 1961.
Kracauer hat in den zwanziger Jahren in seiner Eigenschaft als Filmrezensent der Frankfurter Zeitung wirklich jeden Schrott vom Hofmelodrama bis zur preußischen Schmonzette besprochen. Dieser Schrott wurde aber stets mit den verdienten Urteilen angeprangert. Aussagen Kracauers wie jene, daß die »bourgeoise Moral« vieler Filme »bedauerlich, wenn auch leicht zu erklären« sei, würden mit Sicherheit heute aus den Feuilletonzeilen ins Nirwana der Papierkörbe verbannt. Das Gegengift der kritischen Aneignung Kracauers könnte nur wirken, wenn in die Redaktionsstuben seine Einsicht wiederkehrt, daß Filme »der Spiegel der bestehenden Gesellschaft« sind.