von Henryk Goldberg
Neulich beim Chinesen. Der wohnt leider nicht in China, nur in Bad Hersfeld. Er heißt Herr Li und betreibt das Restaurant Hong Kong. Herrn Li hatte ich gefunden, als ich das erste Mal von den Hersfelder Festspielen Bericht erstattete. Weil ich in Begleitung der Gattin wenig Chancen auf Chinesisch habe, nutzte ich die Situation. Seither gehe ich immer, wenn ich in Bad Hersfeld bin, zu Herrn Li. Und weil, wenn ich in Bad Hersfeld bin, in Bad Hersfeld immer Festspiele sind, hat Herr Li sich das wohl gemerkt. Immerhin, ich war zwei Jahre nicht da, doch Herr Li lächelte mich an mit diesem Wir-kennen-uns-doch-Lächeln. Das erinnerte mich ein wenig an den Erfurter Buchhändler P., der mich, in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrtausends, auch immer so freundlich grüßte, bis ich ihn einmal fragte, ob er denn wisse, wer ich bin. Natürlich, sagte Herr P., Sie sind doch beim Theater. Das war im Prinzip richtig, nur daß ich seit zwanzig Jahren bei der Zeitung war.
Auch Herr Li muß meine Treue zum Theater überschätzt haben. Als ich zahlen wollte, servierte er ein weiteres Glas des branchenüblichen Pflaumenschnapses und sagte so: Ist nicht so stark. Sie können trotzdem spielen. Ich lächelte so irritiert wie blöde, bis ich es begriffen hatte. Die Stiftsruine ist beinahe über die Straße, und es müssen sehr viele Mitwirkende bei Herrn Li einkehren. Man weiß ja, wie diese Mitwirkenden so sind, immer müssen sie einkehren, und Herr Li war der nächste. Außerdem ging Herr Li, wie ich gerade bemerkt hatte, sehr großzügig mit dem Pflaumenschnaps um. Ich kenne alle, sagte Herr Li triumphierend, und von diesem Augenblick an schloß dieses große Wort auch mich ein.
Er brachte mir stolz das Gästebuch, und da waren sie alle verzeichnet, die je hier eine Rolle spielten. Volker Lechtenbrink, der einstige Intendant, Michael Degen, der einstige Faust, mindestens drei Tenöre und viele andere Mitwirkende. Vielleicht Sie schreiben auch? bat Herr Li, und wer kann einem Chinesen schon etwas abschlagen. Nur genierte ich mich etwas. Zum einen, weil meine Handschrift ein wenig unorthodox ausschaut, zum anderen weil ich Herrn Li nun enttäuschen mußte. Also schrieb ich, es täte mir leid, aber ich sei kein Künstler, nur ein simpler Journalist, doch sei die Ente sehr gut und Herr Li sehr freundlich.
Herr Li also nahm das Buch, ich ging Faust gucken. Herr Li, so war ich überzeugt, würde nach meinem Abgang sogleich ins Buch gucken und wissen, was es so auf sich habe mit mir.
Den kommenden Mittwoch war ich wieder bei Herrn Li, Dreigroschenoper. Das Übliche, eine Ente, ein Wein – schließlich, ich wollte auch mental vorbereitet sein auf das Elend der Londoner Bettler. Herr Li lächelte, brachte den Pflaumenschnaps und sprach: Heute nicht spielen? Der Chinese in mir lächelte zurück und wartete. Vielleicht hatte Herr Li mein Coming out gelesen und formulierte es auf seine Art. Heute nicht spielen, heute Fußball? ergänzte Herr Li lächelnd, es war der Tag eines Fußballspiels. Ich lächelte auch und nickte, Fußball. Wenn Fußball ist, dann wollen wir vom Theater auch eine Ruhe haben. Und außerdem, ich würde ja heute tatsächlich nicht spielen. Vielleicht, weil meine Schrift aussieht, wie sein Deutsch klingt, jedenfalls, Herr Li hatte meinen Eintrag in seinem Gästebuch nicht gelesen.
So hat mich Herr Li aus Bad Hersfeld mit seinem sanften chinesischen Lächeln gelehrt, daß man den Einfluß selbst verfaßter Texte mit Demut bewerten soll.
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