von Hans-Dieter Rutsch
Wir Deutschen sind Spezialisten für Jubiläen. Akribisch geführte Datenbanken signalisieren uns mit großem Vorlauf, wann es etwas zu gedenken, zu feiern oder zu bejammern gibt. Die Kalenderindustrie lebt davon, den Autoren des Feuilletons sichert es Arbeitsplätze und die Programmchefs der Fernsehsender strukturieren mit dieser Handreichung das tägliche Geflimmer auf dem allabendlichen Bildschirm. In diesem Jahr kam auch reichlich Schlesien vor: Vor einhundertfünfzig Jahren erblickte dort der deutsche Dichter, Dramatiker und Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann das Licht der Welt. Diese Tatsache gab gleich ein ganzes Festjahr her – 2012 wurde zum Hauptmann-Jahr gemacht. Den Auftakt lieferte das Görlitzer Gerhart-Hauptmann-Theater und lud im Mai zu einem Theatertreffen unter dem Motto „Vor Sonnenaufgang“ ein. Die Görlitzer Theatermacher verblüfften damit das deutsche Feuilleton. Es grübelte zunächst weniger über Gerhart Hauptmann, sondern über die Frage: Warum hat Görlitz im Klima allgemeiner Kultursparwut immer noch ein Theater? Und dann noch ein so lebendiges? In über zwanzig Vorstellungen erspielten sich Schauspieler einen Raum, in dem die Regisseure das Thema Moral und Ausbeutung auf ihre Weise aufeinander prallen ließen. Die Botschaft des Stückes ist ja unbequem für unsere heutige freie Welt: Die soziale Wirklichkeit macht den Menschen unfrei in seinen Entscheidungen. Außerdem schimmert ein wenig von der Brechtschen Haltung durch: zuerst kommt das Fressen, dann die Moral.
Das Sozialdrama „Vor Sonnenaufgang“ verfasste Hauptmann als Siebenundzwanzigjähriger und galt danach schlagartig als ein führender Dramatiker der Moderne. Da lebte der Dichter zwar bereits in Berlin, aber er schrieb immer mit schlesischem Blickwinkel, siedelte seine sozialkritischen Stoffe in der schlesischen Landschaft und die Figuren im schlesischen Milieu an. Das war ihm vertraut, ja Hauptmann – und da hilft uns nur ein altmodisches Wort weiter – liebte die etwas knorrige Mentalität der Schlesier, ihre Zurückhaltung vor dem Aufbrausen und ihr unbedingtes Gefühl, wie ein Baum in der Landschaft verwurzelt zu sein. Woanders leben? Unvorstellbar. Der Armut entfliehen? Nicht um jeden Preis. Auch im Widerspruch zwischen Aufbegehren und Verharren agieren die Figuren in Hauptmanns Dramen. Sie sind darum eigenwillig und anders als die revolutionären Heißsporne Mitteldeutschlands. Sie greifen nur im Notfall zu den Waffen (schlesischer Weberaufstand) und üben ansonsten Zurückhaltung bei der Hinrichtung ihrer üblen Gegenspieler.
Vielleicht stülpten darum Kalendermacher und eilig schreibende Feuilletonisten dem weltläufigen Theatermann immer wieder ein Klischee über: Hauptmann sei im provinziellen Schlesien geboren und hätte es ein Leben lang nicht verlassen. Die Berliner und weiter westlich der Hauptstadt lebende Journalisten konnten sich unter Schlesien zuerst immer nur „Provinz“ vorstellen, sonst hätten sie so etwas nicht geschrieben und bis in die Gegenwart unbedacht wiedergekäut. Und sie haben Goethe nicht gelesen, denn der hatte schon 1790 (der Weimaraner war mit seinem Herzog auf Dienstreise) für Schlesien die Formulierung „zehnfach interessantes Land“ gefunden.
Schlesien war damals eine Landschaft für Nobelpreisträger und Millionäre. Theodor Mommsen schrieb als Rektor der Breslauer Universität nahezu „nebenbei“ seine umfassende „Römische Geschichte“ und wurde dafür 1902 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. Die Breslauer Universität galt mit ihrer Aula Leopoldina aus Österreichischen Zeiten als modern, aufgeklärt und als Ort der Sehnsucht. In dieser Stadt legte Hauptmann – wenn auch nicht glücklich dabei – das Abitur ab, hier gewann er seine Vorstellungen von Theater und Kunst. Die haben ihn in der Tat sein Leben lang begleitet.
Auf wuchs Gerhart Hauptmann in Bad Salzbrunn. Als Szczawno-Zdrój ist die kleine Stadt heute ein Teil von Wałbrzych, dem einstigen Waldenburg, eine reichliche Autostunde südwestlich von Breslau entfernt. Salzbrunn war 1862 kein Kaff oder Nest, sondern stieg damals auf in die Liga der teuersten Kurorte Europas. Direkt neben der Trinkhalle – inzwischen liebevoll rekonstruiert – und mit einem wunderbaren Ausblick auf den Kurpark führten Hauptmanns Eltern das Hotel „Zur Krone“. Es steht dort zwar noch in unrestauriertem Charme, aber das kann morgen schon anders sein. Im heute polnischen Schlesien gibt es längst ein Besinnen auf die deutsche Vorgeschichte und die Ahnung, dass in der Wahrung von Tradition das Potential für Zukunft liegt. Die polnische Administration ist darum längst stolz auf „den berühmten Sohn unserer Stadt“ und schraubte mit Musik und ausschmückenden Festreden Schilder mit der Aufschrift „Hauptmann-Platz“ an das Rondell zwischen Trinkhalle und Hotel. Vorurteile gegenüber Deutschen? Mann muss sie inzwischen suchen, wenn man fündig werden will.
Dafür entdeckt die deutsche literarische Gelehrtenwelt nach akribischer Forschung und nach gründlicher Akteneinsicht ausgerechnet jetzt eine peinliche Nähe des Dichters zu nationalsozialistischer Sicht und Doktrin. Es gibt eben Zufälle. Mal abgesehen davon, dass es in den letzten Jahren nicht mangelte an Entdeckungen, dass später für klug gehaltene Menschen in ihrer Jugend dem Nationalsozialismus nahe standen oder von ihm beeinflusst wurden – was haben die Hauptmann-Forscher bisher betrieben? Warum waren sie nicht verwundert darüber, dass Hauptmanns Bücher 1933 nicht in hohem Bogen von den wild gewordenen Braunhemden auf den Scheiterhaufen geworfen wurden? Hauptmanns Bücher überlebten in den Bibliotheken, auf deutschen Bühnen und wurden von der Ufa verfilmt. Der Dichter selbst verkehrte zuvor schon in erzkonservativen Kreisen und galt als ein Bewunderer Mussolinis. Gegen seine nationalsozialistische Umgebung begehrte er nicht spürbar auf. Auch sind bis jetzt keine Proteste entdeckt, in denen sich der Dichter zur Wehr setzte gegen die Vereinnahmung seiner Stücke von Regisseuren, die sie buchstäblich in Blut und Boden inszenierten. Es scheint diese Gegenwehr nicht gegeben zu haben. Im Gegenteil. Sein Narzissmus, seine Geltungssucht, sein Gefühl, ein direkter Nachfahre Goethes zu sein, machten ihn in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre blind gegenüber der faschistischen Wirklichkeit. Dass die deutsche Linke davon überrascht war, lag nicht an Hauptmann, sondern an der gescheiterten Vereinnahmung des Dichters für ihren revolutionären Kampf. Davon war Hauptmann immer ratlos erschrocken.
Bleibt am Ende die Frage: Was wäre gewesen ohne das Datum für ein HAUPTMANN-JAHR? Hätte es für den Dichter eine solch mediale Präsenz gegeben? Es bleibt schon ein Jammer, wie sehr wir unsere geistige Ernährung in der Gegenwart aus der Vergangenheit rechtfertigen. Es hat aber auch etwas von nachträglicher Erbsenzählerei: die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Und keine Generation traut dem Zählergebnis seiner Vorfahren. Darum wird immer wieder neu gezählt. Sicher auch im nächsten HAUPTMANN-JAHR.
Schlagwörter: Breslau, Gerhart Hauptmann, Hans-Dieter Rutsch, Hauptmann-Jahr, Hauptmann-Theater Görlitz, Schlesien