Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 18. September 2006, Heft 19

Freiheitliches

von Erhard Crome

In ihrer Regierungserklärung vom 30. November 2005 hat Angela Merkel gefordert: »Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen!« Wessen Freiheit meinte sie, und welche?
Die Wirtschaftswoche stellte ihr im März, nach den berühmten einhundert Tagen, die Frage nach derlei Freiheit. Sie sei versprochen worden, doch von mehr Freiheit sei nichts zu spüren. Als Frau Merkel dann sagte, soziale Marktwirtschaft verlange einen Ordnungsrahmen, wurde ihr entgegnet, Ordnung dürfe keine Einengung, sondern müsse »Basis für mehr Freiheit« sein.
Die FDP hat es naturgemäß mit der Freiheit, sie ist ihr sozusagen in die Wiege gelegt. Sie meint, nach dem »Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts« stehe nun das Prinzip »Freiheit durch Verantwortung« auf der Tagesordnung. Auch hier die Fragen: Für wen die Freiheit? Für wen die Verantwortung? Und jeweils: Welche?
Sehen wir uns die freiheitlichen Realitäten näher an. Im Wirtschaftsteil der Zeitungen wird seit einiger Zeit diskutiert, welche Folgen die Einführung von REIT haben wird. REIT ist die – natürlich englische – Abkürzung für: Real Estate Investment Trusts. Das sind börsennotierte Immobiliengesellschaften, die Grundstücke und Gebäude kaufen und bewirtschaften oder den Erwerb finanzieren. Die Erträge daraus sind übrigens steuerfrei gestellt, und der Gewinn kann an die Aktionäre in fast voller Höhe ausgereicht werden. Finanzminister Steinbrück sieht diese REITs bereits auf dem deutschen Markt.
Aus der Sicht der Kapitalverwertung geht es um die »Mobilmachung immobilen Vermögens«, meinte ein Experte aus dem Immobilienbereich. Das sei eine der »wichtigsten politischen Entscheidungen« in diesem Bereich. Seit dem Jahre 2000 haben die klamm gemachten Kommunen in Deutschland etwa 600000 Wohnungen verramscht, wie wir auch wissen, zumindest in Dresden, nicht ohne Zutun der PDS beziehungsweise der Linken. Etwa 500000 davon haben überwiegend angelsächsische Investmentfirmen gekauft. Diese Wohnungen stehen als bezahlbarer Wohnraum nicht mehr zur Verfügung. Der Trend soll fortgesetzt werden. Derzeit wird von einem Verkauf von etwa einer Million weiterer Mietwohnungen bis 2010 ausgegangen. Hier geht es um ein Finanzvolumen von zirka zwanzig Milliarden Euro.
Schauen wir uns die betriebswirtschaftliche Seite an, so heißt das, alle Rendite, die hier herausgepreßt wird, kommt aus den Mieten. Früher in kommunaler Verantwortung liegender bezahlbarer Wohnraum wird einer verschärften Gewinnerwartung unterworfen, die Mieterhöhungen liegen stets bei der höchstmöglichen Marge.
Schauen wir hier auf die Freiheit und die Verantwortung, so sind die Dinge klar verteilt: Die Renditejäger haben die Freiheit, die Mieten maximal zu erhöhen, und die Mieter haben die Verantwortung, diese Mieten zu bezahlen. Eine Verantwortung für das Glücklichsein der Mieter, eine gesunde Stadtentwicklung und sozial gebundenen Wohnraum haben die Profiteure nicht; die Freiheit der Mieter, dies selbst zu erwirken, wird durch die rasch steigenden Mieten ebenso rasch eingeschränkt. Die Folge der Zerstörung früher sozial gebundener Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge durch beschleunigte Profitmaximierung ist nicht »Freiheit durch Verantwortung«, sondern Freiheit statt Verantwortung.
Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, daß die Freiheit immer vier Dimensionen hat. Es geht zunächst um die Freiheit der menschlichen Gattung oder der jeweiligen Gemeinschaft von Menschen unter der Voraussetzung der natürlichen Bedingungen. In einer Höhle zu wohnen und halbrohes Fleisch am offenen Feuer zu verzehren oder in einer zentralbeheizten Wohnung mit Kühlschrank und modernem Kochherd zu wohnen, ist im Sinne freiheitlicher Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen durchaus ein Unterschied.
Die zweite Dimension ist die der Verfügung über das eigene Selbst. Ob die Sklaverei erlaubt oder verboten ist, ob es die Todesstrafe gibt oder nicht, ob Folter gestattet ist oder nicht, ob mit einem rechtsstaatlichen Verfahren zu rechnen ist oder mit reiner Willkür – alles erhebliche Unterschiede bei der Disposition über die eigenen Lebensumstände.
Die dritte Dimension ist die der Demokratie. Kann ich an der Bestimmung, wer mich regiert, in der Tat aktiv mitwirken, oder ist dies durch Erbadel, Klerus oder Einheitspartei vorbestimmt? Ist mir gestattet, eine eigene Partei frei zu gründen, oder muß ich mich in vorhandene Strukturen begeben? Gibt es einen Erwartungsdruck in bezug auf meine Gesinnung – im Sinne des rechten religiösen Glaubens, der erwarteten Haltung zu Kaiser und Vaterland oder einer gewollten weltanschaulichen Disposition? Auch dies alles ist Teil der Freiheit, aber nicht der alleinige, wie es die imperiale Propaganda der USA bei ihren Kriegen zur »Demokratieförderung« gern glauben machen will.
Die vierte Dimension ist verbunden mit dem alten Hinweis, es ginge um das gleiche Recht von Armen und von Reichen, unter Brücken zu schlafen. Die Möglichkeit, Freiheit real auszuüben, bedarf materieller Voraussetzungen. Und die werden durch die Profitmaximierung gerade nicht gerechter verteilt. Wenn also die Neoliberalen lautstark verkünden, gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheit seien unteilbar, so ist, wie schon unser Beispiel mit den zu verramschenden Wohnungen gezeigt hat, genau das Gegenteil der Fall: Die wirtschaftliche Freiheit der wenigen untergräbt die gesellschaftliche Freiheit der vielen.
Die Linke braucht eine Debatte um die Freiheit nicht zu fürchten. Im Gegenteil, sie muß sie unter den Bedingungen des Neoliberalismus verstärkt und zielgerichteter führen. Frau Bundeskanzlerin, lassen Sie uns mehr Freiheit wagen! Nur, unsere Freiheit ist nicht deren Freiheit. Das Wir und das Sie sind neu zu thematisieren in Zeiten des Klassenkampfes derer von oben gegen die da unten. Nichts anderes ist die neue Wohnungsprivatisierung: Rentenökonomie oder besser: Schutzgelderpressung auf Kosten derer, die sich am wenigsten wehren können.