Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 21. August 2006, Heft 17

Neue Nomaden braucht das Land

von Helmut Höge

Seit einigen Monaten demonstrieren allwöchentlich bis zu zwölftausend Menschen auf dem großen Sukhbaatarplatz in Ulan Bator gegen die Regierung und deren vermeintlichen Ausverkauf des Landes an ausländische Bergbauunternehmen – bei 2,7 Mio Einwohnern ist das schon fast eine Volksbewegung. Sie wird zudem von mehreren Bürgerinitiativen und Parteien unterstützt. Einige dieser Organisationen haben ihre Jurten auf dem Platz aufgebaut. Etwa ein Dutzend Protestierer trat Mitte April in einen Hungerstreik. Der Direktor des Forschungsinstituts für Asiatischen Schamanismus wollte sich sogar verbrennen, was die Polizei jedoch in letzter Sekunde verhinderte.
Grund für den Bürgerprotest sind die von der Regierung bisher vergebenen sechshundert Lizenzen – für Prospektion und Abbau von Bodenschätzen, an ausländische Konzerne, darunter sechzehn an deutsche Firmen. Die Demonstranten fordern, mindestens 51 Prozent des Profits müßten im Land bleiben. Insbesondere kritisieren sie die Verträge mit dem kanadischen Bergbauunternehmen Ivanhoe Mines, das in der Wüste Gobi eine ganze Stadt nebst Fabriken zum Abbau von Gold und Kupfer errichten will. Auf dem Sukhbaatarplatz wurden Papierpuppen, die unter anderem den Ivanhoe-Chef Robert Friedland darstellten, verbrannt. Ein Demonstrant starb bei der Blockade einer Goldmine, der oberste Finanzkontrolleur des Landes wurde ermordet.
Den Protesten haftet im globalen Rahmen etwas Paradoxes an: Während der Neoliberalismus nahezu weltweit mit Betriebsverlagerungen, -abwicklungen und Prekarisierung der traditionellen Arbeitsverhältnisse in den industrialisierten Ländern die Seßhaften zum Nomadentum zwingt, werden die letzten noch real existierenden Nomaden in Arabien, Afrika und in der Mongolei zur Seßhaftigkeit gedrängt.
Zuvor hatten schon die Kommunisten die nomadischen Viehzüchter zur Seßhaftigkeit gedrängt. Nach 1989 fanden aus ökonomischer Not viele Menschen in der Mongolei und in den ehemaligen asiatischen Sowjetrepubliken wieder zu ihrer alten nomadischen Lebensweise zurück. Nicht zuletzt deswegen wird der Protest von nicht wenigen Mitgliedern der mongolischen Regierung und Mitarbeitern in den Ministerien als eine »antimoderne Bewegung« begriffen, ähnlich der Revitalisierung von Buddhismus und Schamanismus.
Demgegenüber befänden sich die neuen »Nomaden« in den Industrieländern angeblich auf der Höhe der Modernität. Entweder, weil sie sich als Arbeitsemigranten aufgemacht haben, neue Jobs in anderen Ländern und Städten zu finden, oder, indem sie als Künstler, Wissenschaftler, Politiker oder Geschäftsleute bereits eine quasi transnationale Existenz führen. Beide Gruppen, die erste umfaßt schon zigmillionen Menschen, die zweite erst einige tausend, bildeten so etwas wie eine Avantgarde in der europäischen und amerikanischen Seßhaftenkultur, denn die Fackel der Befreiung sei von den seßhaften Kulturen an »unbehauste, dezentrierte, exilische Energien« weitergereicht worden, »deren Inkarnation der Migrant« ist – meint zum Beispiel der Exilpalästinenser Edward Said.
Für den Engländer Neal Ascherson sind es die »Flüchtlinge, Gastarbeiter, Asylsucher und Obdachlosen«, die zu Subjekten der Geschichte geworden sind. Der Pole Krzysztof Wodiczko zog daraus den Schluß: »Der Künstler muß als nomadischer Sophist in einer migranten Polis aufzutreten lernen« – auf ihren neuen Agoren, den Plätzen, Märkten, Parks und Bahnhofshallen der großen Städte. Ebenfalls an die urbane »intellektuelle Zirkulations«-Szene wandten sich die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari – mit einer ganzen (mehrbändigen) Nomadologie, deren Credo zuvor Michel Foucault formuliert hatte: »Glaube daran, daß das Produktive nicht seßhaft, sondern nomadisch ist!«
Die burjatische Ethnologin Tsypylma Darieva hat diesen Gedanken 2004 mit einer Doktorarbeit Russkij Berlin – über die hochqualifizierte postsowjetische Emigrantenszene Berlins – empirisch erhärtet, nicht zuletzt durch ihre eigene Wissenschaftskarriere. Von einem Sudanesen, der jahrelang aufs Neue versuchte, nach Nordeuropa zu gelangen, handelt das Buch Libysche Träume der Frankfurter Schriftstellerin Pola Reuth. Umgekehrt nahm die Kulturpolitikerin Adrienne Goehler die sich immer mehr »verflüssigenden« sozialen Umwelten in den Blick, um den nomadisierenden Künstler und Intellektuellen als produktive Antwort zu begreifen. Da deren äußerst mobile Existenz bald für alle gelten solle, werde sich der Sozialstaat zur Kulturgesellschaft wandeln, so ihre These, die der SPD-Theoretiker Peter Glotz bereits 1987 vorformulierte.
2003 erhielt die Slowakei die »strikte Anweisung« aus Brüssel, »dafür Sorge zu tragen, daß das slowakische Romaproblem nicht zu dem werde, was es immer war, nämlich zu einer europäischen Angelegenheit. Der freie Verkehr von Waren und Personen … sollte denen erschwert werden, die diesen Verkehr in Europa seit Jahrhunderten praktizierten,« schreibt der Salzburger Schriftsteller Karl-Markus Gauß.
Der jüdische Philosoph Vilém Flusser merkte dazu an: »Wir dürfen also von einer gegenwärtig hereinbrechenden Katastrophe sprechen, die die Welt unbewohnbar macht, uns aus der Wohnung herausreißt und in Gefahren stürzt. Dasselbe läßt sich aber auch optimistischer sagen: Wir haben zehntausend Jahre lang gesessen, aber jetzt haben wir die Strafe abgesessen und werden ins Freie entlassen. Das ist die Katastrophe: daß wir jetzt frei sein müssen. Und das ist auch die Erklärung für das aufkommende Interesse am Nomadentum …« Dieses neue Interesse äußert sich in einem sich stetig ausweitenden Mongolei-Tourismus: die Mongolei verstanden als beinahe letzte Heimat traditionellen Nomadentums.
Die Münchner Journalistin Gundula Englisch hat tradiertes Wissen, das sie vor allem vom tuwinischen Schriftsteller Galsan Tschinag übernahm, mit den neuen Erfahrungen der hier in Bewegung geratenen Profiteure der elektronischen Revolution verknüpft. Herausgekommen ist dabei eine Art Ratgeber für »Jobnomaden«, der in das »Szenario« einer zukünftig allumfassenden Mobilität mündet, obwohl die Autorin zugeben muß, daß gerade die Mitteleuropäer einem »Wohnortwechsel selbst bei drohender Arbeitslosigkeit« noch äußerst ablehnend gegenüber stehen.