Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 7. August 2006, Heft 16

Die kommunistische Perspektive

von Detlef Kannapin

Daß der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Weltgeschichte sein wird, wußten die klügeren Zeitgeister bereits in der Phase der Etablierung des Systems zwischen 1750 und 1850. Marx blieb es schließlich vorbehalten, die Naturalisierung des Kapitals zu entlarven, während Lenin die politische Philosophie der Organisation und Revolution ausarbeitete, die Gelegenheit gab, das Veraltete praktisch zu überwinden. All diese Erkenntnisse schienen nach 1989/90 wirklich auf dem Scheiterhaufen der Geschichte zu landen, denn der Sieg des Weltkapitals bezeugte offenbar das Ende der Utopien und der vernunftgemäßen Praxis. Das im State Department erfundene geflügelte Wort vom Ende der Geschichte machte die Runde und wurde oft nachgeplappert, obwohl die Fadenscheinigkeit der Argumente und die Zielrichtung der Programmatik nur zu offenkundig waren.
Der französische Avantgardist Guy Debord, der mit seiner Gesellschaft des Spektakels 1967 eines der treffendsten anatomischen Sezierbilder des Spätkapitalismus geliefert hatte, schrieb bereits zu jener Zeit, daß der weltweite Zerfall der Allianz der bürokratischen Mystifizierung sich zu guter Letzt als der ungünstigste Faktor für die gegenwärtige Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft erweisen würde. Und in der Tat: Der Wegfall der antithetischen Alternative zum Kapital hat dieses selbst in die Orientierungslosigkeit geschickt.
Unter dem unscheinbaren Titel Das kommunistische Postskriptum liegt seit einiger Zeit eine kleine Schrift des Philosophen und Medientheoretikers Boris Groys vor. Groys, hierzulande eher als Kunstwissenschaftler bekannt, unternimmt darin nicht mehr und nicht weniger als den Versuch einer längst überfälligen Rehabilitation des Dialektischen Materialismus aus Sicht der Gegenwart. Seine Hauptthese lautet, daß der Kommunismus sich vom Kapitalismus gerade dadurch unterscheidet, daß in der neuen Gesellschaft nicht mehr das Geld die soziale Vermittlung darstellt, sondern die Sprache. Laut Groys zählte der Staatssozialismus sowjetischen Typs durchaus zum Kommunismus, da in ihm – vor allem – die Rolle der Ökonomie und des Geldes zweitrangig war.
Das Kriterium kommunistischen und damit menschlichen Denkens sei die Dialektik – nicht das Einerseits-und-Andererseits-Denken, nicht das Sowohl-als-auch-Denken und besonders nicht das endlos differenzierende Identitätsdenken. Wirklich gedacht wird im Weltentwurf und in der Gegenthese der Reflexion. Darin unterscheiden sich Philosophen von Sophisten. Wo die einen Widersprüche aufdecken und auszuhalten versuchen, streben die anderen nach Kohärenz, die jedoch schon im Wesen der Dinge falsch ist, weil sie die Vielfalt der Existenz leugnet. Philosophie ist das Denken in und mit der Paradoxie, alles andere ist Philosophiegeschichte.
Groys hebt zu Recht hervor, daß Platons Idee der Philosophenherrschaft das Ziel der Philosophie ist. Allerdings nicht im Fehlschluß eines elitären Zirkels, sondern als Streben nach umfassender Philosophie der freien Assoziation aller Menschen, die durch Reden oder beredtes Schweigen schon von vornherein Potentiale von Philosophen in sich tragen. Vielleicht ist, weil dies erkannt wurde, gerade der Sprachmüll in Talk- und Spielshows die letzte Waffe der Handlanger des Kapitals, um den philosophischen Alltagsgeist nicht aus der Büchse der Pandora zu lassen, der sagen würde, nicht die Sprache ist Müll, sondern das Geld.
Für Groys war in der Sowjetunion das Paradox an der Macht. Die ganze Gesellschaft sei darauf bedacht gewesen, in Widersprüchen zu denken und zu handeln. Sogar die Ersten Sekretäre in den Zentralkomitees hielten sich für Philosophen, was nur dann belächelnd abgetan werden kann, wenn man den Standpunkt des sich von der Masse abgrenzenden Intellektuellen einnimmt. Groys erscheinen die Reden und Schriften der staatssozialistischen Politiker als vergangene Wege zu einer Art unvollkommener Volksphilosophie. Unter dieser Prämisse sei es hilfreich, Stalins Äußerungen von 1950 über die Sprachwissenschaft neu zu lesen, denn sie lokalisieren die Sprache als Medium des Fortschritts zwischen Basis und Überbau. Und da jeder Sowjetbürger mit rudimentären Berührungen zum Dialektischen Materialismus gezwungen gewesen sei, zugleich sowjetisch wie antisowjetisch zu denken, waren der dortigen Bevölkerung alle Einwände bewußt, die vom Westen gegen die UdSSR in Anschlag gebracht wurden (analog zum Phänomen der DDR-Bürger, den Witz der Sache erkannt zu haben und sich bei Ausländern für Mißstände entschuldigen zu müssen). Zu einem derartigen systematischen Denken sei der in Privateigentum, Finanzbericht und Rechnungsbilanz verfangene Bürger nicht fähig. Die innere Größe des Antikapitalismus bestand vorerst in seiner Souveränität, staatlich unangreifbar zu sein.
Aus diesem Blickwinkel ergibt sich nach Groys eine neue Interpretation des angeblichen Sieges der Kapitalherrschaft. Nicht der Kapitalismus habe gesiegt, sondern der Staatssozialismus habe sich selbst, nach eigenem Gutdünken und mit eigenem Willen, aufgehoben, weil er sich stark genug fühlte, mit kapitalistischen Methoden den starren Kalten-Kriegs-Kommunismus zu überwinden. Damit wurde die erste kommunistische Epoche historisiert und der Blick frei für die Möglichkeit, das Experiment noch einmal auf höherer Stufe zu wagen. Da es gelungen ist, staatliches Eigentum innerhalb von nur wenigen Jahren zu privatisieren, sei damit bewiesen, daß es sich bei Privatisierungen um politische Entscheidungen handele, die ebenso schnell wieder umkehrbar gemacht werden könnten. Jetzt erst müßten Konzernherren zu zittern anfangen. Entweder man schlüge bei genügend hohen Konzentrationsstufen einfach den Kopf der Aufsichtsräte und Vorstände ab und hätte sofort Technologie und Produktion in der Hand, oder man behielte die zentrale politische Entscheidungsgewalt bei und steuere die Produktivität des Kapitals bis zu seinem Ende. Folgende Generationen würden noch einiges erleben. Der Prophet der Zukunft könnte möglicherweise Nikita Chruschtschow und nicht Benjamin Franklin heißen.

Boris Groys: Das kommunistische Postskriptum, edition suhrkamp 2403, Frankfurt/Main 2006, 96 Seiten, 8,50 Euro