von Wolfram Adolphi
Sie ist wieder im Gange, die Tour der Leiden, die Tour der Superlative – die Tour de France. Millionen haben bereits mit den Fahrern gefiebert an den quälenden, sonnendurchgleißten Anstiegen in den Alpen und den Pyrenäen, bei den rasenden Abfahrten, den gnadenlosen Zielsprints, den zermürbenden Zeitfahren. Es gibt Sieger und Verlierer, und alles sieht so aus, als sei es ganz normal.
Aber das ist es nicht. Denn am 30. Juni, just einen Tag vor ihrem Beginn, hatte sich diese Tour des Jahres 2006 ihrer drei stärksten Sieganwärter entledigt: des Italieners Ivan Basso, des Deutschen Jan Ullrich und des Spaniers Francisco Mancebo. In dieser Reihenfolge hatten die drei im Jahre 2005 hinter dem zum siebenten Mal siegreichen Lance Armstrong die Plätze zwei bis vier belegt, und alles deutete darauf hin, daß sie den Kampf um die Armstrong-Nachfolge unter sich ausmachen würden.
Basso, für den dänischen Rennstall CSC im Sattel, hatte die erste Drei-Wochen-Tour des Jahres, den Giro d’Italia, mit großem Vorsprung gewonnen, Ullrich vom deutschen T-Mobile-Team die zehn Tage dauernde Tour de Suisse dominiert, und von Mancebo aus der französischen Ag2r-Mannschaft wußte man, daß er mit überragender Zähigkeit über die Bergetappen kommen würde.
Der Vorwurf war in allen drei – und noch einigen weiteren, weniger prominenten – Fällen derselbe: Doping. Und einmal ausgesprochen, verwandelte sich dieses Wort – Doping – in eine Lawine. Eine Lawine, die mehr mit sich riß als »nur« die Tour-Ambitionen der Betroffenen. Unter sich begraben hat sie die letzte kleine Hoffnung, es könne dieser Berufsradsport etwas anderes sein als ein Zirkus mit Edelsklaven, und hinweggefegt die letzten Barrieren, die bisher noch der Großen Heuchelei im Wege standen.
Jan Ullrich. Wie überaus einmütig und in Sekundenschnelle sie da alle ins gleiche Horn des »Steiniget ihn!« bliesen: die Tour-Direktoren, die Verantwortlichen in der Konzernzentrale des Hauptsponsors T-Mobile, die deutschen Sportoffiziellen und all die vielen »Experten« der großen Zeitungen, Fernseh- und Radiokanäle. Von einem Augenblick zum andern war er vom Heldensockel in den Orkus gestoßen. Ein klebriger Schwall der Entrüstung ergoß sich über ihn, und in den Ohren müssen sie ihm gegellt haben, die Gesänge, daß mit seiner »Entlarvung« nun endlich, endlich ein Durchbruch gelungen sei im so wichtigen, großen Kampf gegen das Doping, diese Geißel des Sports und des ehrlichen, sauberen Bemühens.
Dabei ist alles Lüge, und zwar von Anfang an; man liefert uns wieder einmal den Beweis, daß sie nur groß genug sein muß, damit man sie schamlos und ungestraft verhundertfachen kann.
Denn natürlich ist es ein offenes Geheimnis, daß ohne Doping die Tour de France mit ihren 3800 Kilometern Länge und fast dreißig Höhenkilometern kaum erfolgreich bewältigt, geschweige denn gewonnen oder im Spitzenfeld beendet werden kann. Die natürliche Trainierbarkeit des Körpers – sagen Ärzte, die es wissen müssen – reicht nicht aus, um den Muskeln eine so schnelle Regenerierbarkeit zu ermöglichen, wie es der Rhythmus der rasch aufeinander folgenden Bergetappen erfordert. Jedenfalls nicht, wenn sie in größtmöglicher Geschwindigkeit bewältigt werden sollen – und dies und nichts anderes ist ja das Ziel des Berufsradsports.
Aber genau da beginnt das eigenartige Herausgehobensein der Welt der Sportprofis aus der übrigen. Denn überall woanders ist es dem nach beruflichem Erfolg strebenden Erwachsenen erlaubt, sich zur Erreichung dieses Zieles leistungssteigernder Mittel zu bedienen, also: zu dopen. Das wissen nicht nur all jene Journalisten, die im Bemühen um die schärfste, treffsicherste und wortgewaltigste Anti-Doping-Story bedenkenlos zu Nikotin, Koffein und Alkohol greifen. Nein, das wissen auch ganz andere.
Was – zum Beispiel – wären die umjubelten Spitzenleistungen auf dem Felde des Rock und Pop ohne Doping? Aber niemand kommt auf die Idee, plötzlich mal Drummer X oder Leadsinger Y für zwei Jahre zu sperren. Trotz des Drogen- und Alkoholtodes der Janis Joplin und so mancher anderer. Jeder ist frei, heißt es da, und für sich selbst verantwortlich. Und im Alltag? Wie viele dopen »ganz normal«, um im Streß, den er mit sich bringt, überhaupt bestehen zu können?
Aber im Sport, ruft der Meinungshauptstrom, dort muß es anders zugehen, dort geht es um Ehrlichkeit und um die Gesundheit der Sportler und um die Vorbildwirkung für die Jugend. Wo so viel Moral postuliert wird, ist Vorsicht geboten. Denn siehe: Sie ist mit üblichem Rechtsverständnis nicht durchsetzbar, braucht an dessen Stelle das Willkürliche. Oder ist es anderes als Willkür, wenn – wie im aktuellen Radsportfall – die übliche Methode zur Kontrolle des Blutes zwar angewandt, deren für den Sportler entlastendes Ergebnis aber ignoriert wird, weil man das Eigenblut-Doping, das zu entlarven man angetreten ist, mit dieser Kontrollmethode ohnehin nicht nachweisen kann? Bei Ullrich nicht – aber auch nicht bei all denen, die nun die Tour erfolgreich bewältigt haben? Und man darum diese regelmäßige Kontrolle durch polizeilichen Zugriff ersetzt, dem monatelange Ausspähung, Fahndung und Indiziensammlung vorausgegangen waren? Wobei – »natürlich« – im dunkeln bleibt, warum man gerade dieses Labor im Spanischen und keines anderswo ins Visier genommen hatte.
Und weiter geht es mit »Moral« und Willkür. »Natürlich« reicht im Dopingfall schon der bloße Verdacht. Die sonst beschworene Unschuldsvermutung ist außer Kraft gesetzt, Verteidigung unmöglich. Als viel zu schwerwiegend wird der Sachverhalt dargestellt, als daß man sich mit derlei Kleinigkeiten aufhalten könnte. Und geradezu verboten sind Fragen wie die, wie es denn komme, daß die Dinge schon seit Mai tröpfchenweise an die Öffentlichkeit gebracht worden waren, aber der große Knall fein säuberlich bis zum Tage vor der Tour aufgespart blieb. Das ist so, belehrt mich meine Regionalzeitung, weil hier »natürlich« die »Gesetze« der Mediengesellschaft greifen. Aha, diese »Gesetze« wenigstens werden anerkannt.
Aber war nicht eben noch von der Sorge um die Gesundheit der Sportler die Rede? Und hätte man darum aus Angst um Jan Ullrich nicht alles nur erdenklich Mögliche tun müssen, um ihn vom Start bei der Tour de Suisse abzuhalten? Damit er nicht Schaden nehmen möge? Ach nein, man hat es lieber noch ein bißchen zappeln lassen, das »Jahrhunderttalent«, das man seit seinem Sieg bei der Tour de France 1997 zu einer Art Volkseigentum erklärt hatte mit dem daraus folgenden »Recht«, die zweiten Plätze in den Jahren 1998, 2000, 2001 und 2003 sowie den vierten Rang 2004 und den dritten 2005 in gebetsmühlenartiger Wiederholung mit dem Prädikat »eigentlich enttäuschend« zu versehen und sich immer mal wieder süffisante Kommentare über weihnachtliche Eßgewohnheiten und »chronische Trainingsfaulheit« anzumaßen.
Das Willkürliche der Kontroll-, Fahndungs- und Entscheidungsmethoden in Sachen Doping findet seine Ergänzung in der Unmöglichkeit einer Solidarisierung der Sportler untereinander. Die, die sie nun gefahren sind, die Tour des Jahres 2006, sind auf Gedeih und Verderb gezwungen, das Spiel aus Tricks, Raffinesse und Verschwiegenheit weiter zu spielen. Den Fans, die auch weiterhin nach Millionen zählen werden, wird künftig neben dem Kitzel, wer gewinnen wird, noch derjenige geboten, wem man im Spiel zu bleiben erlaubt. Die Fahrer selbst haben darauf immer weniger Einfluß.
Und das Doping? Wird man es – wie immer wieder vollmundig versprochen – »ausrotten« können? Natürlich nicht. Die Dinge sind doch längst viel weiter. Was wird da nicht alles schon an Genveränderungen erprobt. Aus rein medizinischen Gründen, sagt man. Mag sein. Aber auch das Doping hat seinen Ursprung im krankheitsbekämpfenden Medikament. Über all das müßte geredet werden – aufklärerisch und offen. Mit der Herabwürdigung der Profis zu Edelsklaven hingegen erfährt das System nur neuerliche Stärkung. Und die Tour-Karawane zieht weiter.
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